Lange galt der berühmte Lexicon-Hall als nicht bezwungene Bastion. So sehr sich die Programmierer auch bemühten: Von den gefühlt 300 Plug-in-Reverbs, die in den letzten zehn Jahren veröffentlicht wurden, klang kein einziges wirklich wie die großen Lexicon-Hallgeräte. Naja, eines doch: Lexicons eigenes PCM Native Reverb Bundle, das allerdings mit knapp 1.300 Euro zu Buche schlägt. Mit 349 Dollar scheint Universal Audios Plug-in für die UAD-2 ungleich günstiger.Wobei man aber nicht 1:1 vergleichen kann, denn Universal Audio hat keine aktuelle LexiconHardware wie das PCM 96 emuliert, sondern einen Klassiker: Lexicons allererstes digitales Hallgerät, das legendäre 224.
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Das 224 kam 1978 auf den Markt und wurde sofort zu einem durchschlagenen Erfolg. Es war Lexicons Antwort auf das EMT 250, das wenige Jahre zuvor als erstes Gerät künstlichen Nachhall auf digitaler Ebene erzeugte. Nicht zuletzt, weil es in der Grundausstattung deutlich günstiger war als das EMT 250, erreichte das Lexicon 224 eine enorme Marktdurchdringung und wurde rasch zu einem unumstößlichen Studiostandard, den ein anständiges Studio einfach haben musste. Mit seinen geschmeidigen Hallfahnen war es außerdem wie geschaffen für Pop- und Rockproduktionen; es definiert bis heute das, was wir uns unter dem Begriff „Studiohall” vorstellen. Das 224 ist quasi die Ursuppe des Lexicon-Sounds.
Oberflächlich
Einer der Erfolgsfaktoren des Lexicon 224 war sicherlich auch die Bedienung über eine Remote-Control, von der aus man die Hallparameter von der idealen Hörposition aus justieren konnte. Das Plug-in-Fenster ist eben jener Remote nachempfunden.Am oberen Ende befinden sich eine Pegelanzeige und ein numerisches WerteDisplay im LED-Stil. Darunter liegen zwei Reihen mit je acht Tastern,sechs Schieberegler und noch mal sechs weitere Taster. Die ersten acht Taster wählen die Grundprogramme an. Universal Audio hat die letzte Softwarereversion 4.4 gemodelt, die acht Hallprogramme sowie ein Chorus-Programm bietet. Der Chorus hat keinen eigenen Taster und wird durch Klicken unterhalb der Werteanzeige aktiviert, woraufhin alle acht Programmtaster aufleuchten. Die übrigen Grundprogramme werden über ihre dedizierten Taster aufgerufen, deren Anordnung schon etwas wirr wirkt: Small Hall B, Vocal Plate, Large Hall B, Chamber, Percussion Plate, Small Hall A, Room A und Constant Plate. Diese neun Grundprogramme basieren auf sieben Algorithmen – ein paar Programme verwenden denselben Algorithmus. Im Klang differieren aber alle neun Grundprogramme so deutlich voneinander, als basierten sie alle auf eigenen Algorithmen.
Der erste Button der zweiten Reihe bestimmt das Verhalten des Plug-in-GUIs:Ist „Immed” (immediate) aktiv, bleiben die gegenwärtigen Parameterwerte beim Durchsteppen der Grundprogramme erhalten. Ist Immed ausgeschaltet, verhält sich das Plug-in wie die Originalhardware, d. h., die Werte springen auf die Default-Einstellungen des jeweiligen Programms. Letzteres ist durchaus sinnvoll,wenn man bei null starten möchte; die ImmedFunktion gestattet aber das Gegenchecken anderer Algorithmen, wenn man bereits optimale Nachallzeiten etc. für den jeweiligen Song gefunden hat. Best of both worlds!
Dieses Motto gilt auch für den nächsten Button, „Sys Noise”, über den sich das Systemrauschen der Originalhardware abschalten lässt. Universal Audio hat nämlich nicht nur die Hall-Erzeugung emuliert, sondern auch den analogen Signalweg inklusive der Audio- übertrager und der etwas knorzigen 12-BitWandler. Wer sich in der Jetztzeit wohler fühlt als im Jahre 1978, schaltet Sys Noise einfach ab, und weg ist der liebevoll gemodelte Ranz und Knarz.Wie sehr sich die Universal-Audio-Ingenieure in die Details eingearbeitet haben, beweist auch die Tatsache, dass das zweite Ausgangspaar der Hardware gesondert gemodelt wurde Der Rear-OutsTaster ist sozusagen „Freaks-only”; in den meisten Anwendungen bringt er keine nennenswerte Klangveränderung.
Die beiden nächsten Funktionen heißen Mode Enhancement und Decay Optimization. Wer sich das Leben nicht unnötig kompliziert machen möchte, lässt diese einfach angeschaltet (sofern der Algorithmus sie anbietet), denn mit diesen Funktionen optimiert das Lexicon 224 seine Einstellungen selbsttätig. Ein Deaktivieren bietet sich nur an, wenn man sich gezielt auf unbekanntes Terrain wagen möchte. Beide Funktionen lassen sich bei Bedarf über die untere Tastenleiste in der Stärke regulieren (s. u.). Die Taster „Wet”, „Dry” und „Solo” sind selbsterklärend.
Auf Slidern durch den Raum
Auf den jeweiligen Song abgeschmeckt werden die Grund-Presets im Wesentlichen über die sechs Schieberegler. Die Parametrisierung ist ebenso einfach wie genial: Der zentrale Parameter Nachhallzeit ist auf zwei Slider verteilt: einer für die tiefen Frequenzen („Bass”) und einer für die oberen („Mid”). Der daneben liegende dritte Slider bestimmt die Übergangsfrequenz. Die Reglerbezeichnungen sind technisch nicht ganz korrekt: Der Mid-Regler ist für alles oberhalb der „Crossover”-Frequenz zuständig, einen gesonderten Regler für die Abklingzeit der Höhenfrequenzen gibt es nicht. Der vierte Regler „Treble Decay” bestimmt nämlich die Einsatzfrequenz eines simplen Tiefpassfilters auf der Hallfahne. Nichtsdestotrotz tun die Regler in der Praxis das, was man von ihnen erwartet: Sie bestimmen den Bass-, Mittenund Höhengehalt.
„Depth” ist etwas subtiler in der Wirkung. Dieser Regler bestimmt den (virtuellen) Abstand zwischen Schallquelle und Nachhall und hilft, Tiefenstaffelung im Mix zu schaffen, insbesondere dann, wenn man mehrere Instanzen zur Verfügung hat. Für die Tiefenstaffelung wichtig ist natürlich auch der „Pre-Delay”-Regler: Je weiter die Schallquelle vom Zuhörer entfernt ist, desto kürzer ist der Abstand zwischen Direktsignal und Nachhall. Der Regelumfang wird je nach Programm auf sinnvolle Werte begrenzt. So erlaubt die Percussion Plate A Pre-Delays von 0–107 ms, während der Acoustic Chamber Werte von 25–255 ms zulässt.
Alles kann, nichts muss
Neben diesen Haupt-Parametern bietet das Lexicon-Plug-in bei Bedarf Zugriff auf sekundäre Parameter, über die der geneigte Reverb Nerd die Hallfahne weiter durchkneten kann. Aber das ist kein Muss! Lexicon hat die sekundären Parameter bereits bestens abgestimmt; auch ohne Fummelei klingen die Programme prima.
Über die „Diffusion”-Tipptaster lässt sich die Dichte der Hallfahne verändern. Wobei Universal Audio in der immerhin 19-seitigen Anleitung darauf hinweist, dass die gefühlte Dichte bei Werten über 40 wieder abnimmt; das tatsächliche Maximum liegt eher in der Mitte des Regelbereiches.
Die „Mode-Enhancement”-Parameter gehören zu den Eigenarten der Lexicon-Hall-Erzeugung. Damit die Hallfahne nicht statisch wirkt und sich keine (virtuellen) Raummoden aufbauen, werden die Delays, aus denen sich die Hallfahne aufbaut, moduliert. Die Stärke dieser Modulation lässt sich über Mode Enhancement bestimmen. Auch die Tiefe dieser Chorus-artigen Modulation ist regelbar – dazu gleich mehr. „Decay Optimization” ist eine weitere Spezialität: Um dieTransparenz im Mix zu erhalten,reduziert das Lexicon 224 seine Abklingzeiten abhängig vom Eingangspegel.
In dem Zusammenhang wären Ein- und Ausgangsregler nicht schlecht. Und die gibt es auch: Sie verbergen sich unter einer Klappe, die aufspringt,sobald man oben rechts auf die dezente „Open”-Schrift klickt. Außer den erwähnten Pegelstellern finden sich hier auch Plus/MinusTaster für Pitch Shift. Dahinter verbirgt sich kein geheimer Harmonizier, sondern der Depth-Parameter für die oben erwähnte Modulation der Hallfahne (Mode Enhancement).
Was noch? Die Original-Firmware des Lexicon 224 hatte ein paar Bugs, die in seltenen Fällen zu Artefakten führen können. Universal Audio hat diese Bugs behoben, aber durch Klicken auf das UA-Logo in der Mitte der Hidden Controls, lässt sich das Debugging deaktivieren,sollte einer der alt-eingesessenen User die lieb gewonnenen Runzel vermissen. Man weiß ja nie! Der Hold-Schiebeschalter bedient keinen Klangparameter,sondern wirkt lediglich auf die LED-Anzeige. Normalerweise wird beim Anklicken eines Schalters oder Reglers dessen Wert für 1,5 Sekunden eingeblendet, danach zeigt er wieder den wichtigsten aller Werte an: die Nachhallzeit, gemittelt aus den Werten für Bass- und Mid-Decay. Bei aktivierter Hold-Funktion bleibt der jeweils zuletzt veränderte Parameter im Display.
Im Einsatz
Die wirklich wichtigen Parameter lassen sich über die sechs zentralen Schieberegler nahezu intuitiv bedienen und auf den jeweiligen Einsatz optimieren. Besonders genial ist die Aufteilung der Abklingzeit auf hohe und tiefe Frequenzen. So lässt sich in null Komma nichts der virtuelle Raum in den Bässen „abtrocknen” oder weich und „gemütlich” gestalten. Lässt man die Lexicons Optimierungen angeschaltet, ist es nahezu unmöglich, zu schlechten Ergebnissen zu kommen. Zudem sind die Wertebereiche so skaliert, dass auch Extremstellungen überzeugend klingen. Als User muss man sich eigentlich um nichts kümmern als um die Abstimmung auf die eigenen Klangvorstellungen und die Erfordernisse des Mixes.
Ein paar Sachen gibt es schon, die das Lexicon 224 nicht kann. Dazu gehört u. a. das Erzeugen höhenreicher Hallwolken moderner Prä- gung. Die Maximalstellung des Tiefpassreglers ist 10,9 kHz; mehr Bandbreite wäre Anno 1978 exorbitant teuer gewesen, und mehr braucht man auch heute noch nicht für alles, was halbwegs natürlich klingen soll. Auch für Klassik ist der Lexicon-Hall vielleicht nicht der beste Kandidat. Die Modulation der Hallfahne ist auf manchen Klängen wie Piano zu offensichtlich. Überhaupt ist Realismus nicht die große Stärke des 224. Seine Domäne ist die Popmusik. Da wo Räume nicht reproduziert, sondern erschaffen werden, fühlt sich das 224 so richtig zu Hause. Der Lexicon-Hall klingt schöner als echt. Es ist ein Raum der Imagination, ein Raum, der Weite schafft und die Fantasie des Zuhörers anregt, ihn in den Song zieht.
Highlights sind die Vocal Plate, die einen fast ikonischen Gesangssound zaubert, die Percussion Plate, die auch in extrem kurzen Einstellungen voll überzeugt, aber auch das Chamber-Programm, das sich bestens für alle Arten von akustischen Instrumenten eignet. Eine Besonderheit ist die Constant Plate, die bewusst von der Natur abweicht: Normalerweise baut sich ein Hall immer dichter auf; anders das Constant Plate Programm, das über den gesamten Verlauf gleichmäßig dicht bleibt. Solo hört sich die Constant Plate ein wenig dünn an, aber in einem komplexen Mix funktioniert sie und hilft,Transparenz zu wahren.
Den besten Sound erzielt man mit einem Eingangspegel zwischen –6 und –12 dB. Leider gibt’s bei den oben erwähnten Pegelstellern einen Bug: In einigen Algorithmen wird der Wert des rechten Reglers nicht mit dem Projekt abgespeichert. Das Problem, das unabhängig vom verwendeten DAW-Programm auftritt, ist Universal Audio bereits bekannt und soll mit der nächsten Release behoben werden. Erfreulich ist dafür, dass sich der Leistungshunger in Grenzen hält: Sechs Mono-Instanzen schafft eine UAD-2 Solo bzw.fünf Stereoinstanzen – die meisten Algorithmen arbeiten übrigens in True Stereo. Auf meiner UAD-2 Quad ließen sich entsprechend 20 Stereoinstanzen öffnen, wobei die DSP-Auslastung mit 85% noch etwas Luft für andere Plug-ins ließ. Auf der UAD-1 läuft der Lexicon-Hall leider nicht.
Wie schlägt sich das Lexicon 224 im Vergleich zu den bisherigen Hallgeräte-Emulationen für die UAD-2-Plattform? Das EMT 250 klingt realistischer als Raumsimulation, und der echte elektromechanische Plattenhall des EMT 140 ist auch eine Klasse für sich. Aber beide haben eben nur einen Grundsound, das Lexicon 224 hingegen acht. Klassiker sind sie alle, aber der Lexicon-Hall hat vielleicht den höchs – ten Wiedererkennungswert. Es ist genau der Sound, den wir von unzähligen Pop-Alben kennen.
Fazit
Wieder einmal ist Universal Audio ein großer Coup gelungen. Für 229 Dollar ist das UAD Lexicon 224 der mit Abstand günstigste Weg zum legendären Lexicon-Hall. Der geschmeidige Sound ist einfach klassisch, er verbindet sich auf fast magische Weise mit dem Signal und funktioniert ausgezeichnet im Mix. Abgesehen vom hohen Praxisnutzen bietet das Plug-in auch noch einen ganz besonderen Bonus für Freunde der frühen 80er: Man kann nun quasi die Luft zwischen den Noten seines Lieblingsalbums erwerben. Ein Traum wird wahr!
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