Im Jahr 1976 wurde ich zum ersten Mal aufmerksam auf Scott Walker. Ich war 16 Jahre alt, ging zu Schule und war besessen von einem Song, den ich im Radio hörte: No Regrets! von den Walker Brothers. Meine Eltern hatten sich ein Jahr zuvor scheiden lassen, ich hatte mich gerade von meiner Freundin getrennt, und ich fühlte mich verbunden zu dem Song, den Lyrics und dem Sound. Es war einer dieser Songs, von denen ich nicht genug bekommen konnte. Ich habe mir die Single gekauft und immer und immer wieder angehört. »There´s no regrets … no tears goodbye …«
Es war die tiefe Baritonstimme, die über allem stand. Eine gesangliche Leistung mit so einer Sehnsucht und einem solchen Ausdruck. Sie dominierte den gesamten Track und stellte das Orchester in den Schatten, das von David Katz arrangiert und geleitet wurde, und lobte die farbenfrohe Slide-Gitarre von BJ Cole. Der Track hat ein bisschen von allem: Orchester, Rockgitarren-Soli, Blues und Country-Einflüsse − aber ich hatte so etwas wie diese Stimme nie zuvor gehört!
Wenn mich Leute fragen, was das Geheimnis an einer guten Vocal-Produktion ist, empfehle ich ihnen immer, Scott Walker zu hören, denn so werden Lyrics transportiert. Wenn du Scott zuhörst, lernst du etwas über Phrasierung, Atemkontrolle, über Dynamik, über das Transportieren. Jedem Wort einen Sinn und Charakter zu verleihen, egal wie unbedeutend das Thema auch anscheinend sein mag.
Natürlich hatte ich damals keine Ahnung, dass ich sieben Jahre später selbst neben dem Mann sitzen würde, als Co-Produzent und Engineer von Climate of Hunter, dem ersten von unzähligen Projekten, an denen wir zusammen gearbeitet haben. Es war der Beginn einer 36-jährigen kreativen Partnerschaft, die sein Tod zu Beginn des Jahres leider beendete.
Also, wer war er? Wer war der Mann hinter dieser außergewöhnlichen Stimme? Unser erstes Treffen fand in einem japanischen Restaurant des Kensington Hotels in West London statt. Scott war bekannt für seine Zurückgezogenheit, und ich machte mir Sorgen, ich könnte ihn nicht finden. »Er wird in der dritten Nische auf der linken Seite sitzen, eine Baseball-Mütze tragen und an einem Cocktailspieß kauen«, sagte Jeremy Lascelles, A&R-Manager bei Virgin Records.
Als ich den dunklen Raum betrat, suchte ich die Tische nervös ab, mit dem Wissen, dass dies ein »Make or break«- Treffen wird. Und tatsächlich, er saß genau dort wie beschrieben, inklusive Cocktailspieß. Die fernen Echos aus The Electrician (Nite Flights) und die schönen Melodien aus Angels Of Ashes (Scott 4) schwebten in meinem Kopf herum, und ich wusste, dass ich gerade im Begriff war, jemand sehr Besonderen zu treffen.
»Hey! Hier drüben«, rief er und winkte mich zu seinem Platz. Mir wurde gesagt, ich solle nicht so viel Aufmerksamkeit auf ihn und unser Treffen lenken. Scott war aber viel entspannter, als ich dachte. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich bereits in einem neuen Stadium seiner sich ständig weiterentwickelnden musikalischen Karriere. Auf dem Höhepunkt seines Erfolges mit den »Brothers« und einer Reihe riesiger Hits in den späten 60ern − vergleichbar mit den Beatles − mit Songs wie The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore und Make It Easy On Yourself hatte er für sich entschieden, eher auszusteigen als sich selbst zu verkaufen.
No Regrets! war eine Art Rückfall in das Schwarze Loch der Kommerzialität, und trotz des wiedererweckten Interesses war er wieder untergetaucht. Die Promi-Welt war keine Welt, in der er sich wohlfühlte. Er vermied das Rampenlicht und lies es lieber auf diejenigen scheinen, die um ihn herum arbeiteten. Als unsere Beziehung wuchs, fühlte ich mich mehr als Star, als er es tat. Und er war glücklich damit!
Bei einem kleinen Mittagessen − iss nie mit Stäbchen, wenn du zum ersten Mal einen Megastar triffst! − sprachen wir über Simple Minds’ New Gold Dream, ein Album, das ich kurz vorher produziert hatte und das in den Charts hoch platziert war. Er interessierte sich besonders für das reiche Low-End und den kraftvollen Drum-Sound, den ich bei der Aufnahme hinbekommen hatte, und er wollte alles über meinen Recording-Prozess wissen. Es gelang mir, ihn davon zu überzeugen, dass ich für ihn das Gleiche tun kann. Zu dem Zeitpunkt trank ich mein Glas Sake auf und wusste, dass ich den Job bekommen hatte.
»Oh, kannst du Virgin dazu bringen, mir die Demos zu schicken?«, fragte ich ihn und stand vom Tisch auf. »Es gibt keine Demos«, antwortete er steif. »Ich mache keine Demos!« »Wie werde ich dann wissen, wie die Songs sind?«, fragte ich etwas amüsiert! »Das wirst du nicht!«, sagte er!
Einen Monat später war ich mit fünf der weltbesten Musiker in den Townhouse Studios in Shepherd’s Bush und hatte nicht die geringste Ahnung, was wir aufnehmen würden.
Wir waren mit dem Soundcheck fertig, als Scott mit Brian Gascoigne, seinem musikalischen Leiter auftauchte. Nachdem wir die Lead-Sheets verteilt hatten, nahmen wir innerhalb von zehn Minuten auf. Als wir zum ersten Mal in die Aufnahmen reinhörten, beobachtete ich eifrig Scotts Reaktion und fragte mich, ob ich am Ende des Songs noch einen Job haben werde. Er war über die Aufnahmekonsole gebeugt, hatte die Augen geschlossen und die Fäuste geballt. Es sah nicht gut aus.
Ich stoppte das Band. Er drehte sich langsam um und zog eine kleine Schwarz-Weiß-Zeichnung aus seiner Tasche, auf der das Wort »Nightmare« stand. »Ich muss etwas mehr danach klingen«, sagte er und zeigte auf eine trostlose dunkle Landschaft, die auf dem Papier eingraviert war. Es herrschte eine unangenehme Stille im Raum, als er mich mit anspruchsvollen Augen ansah. Ich gab mein Bestes, um so auszusehen, als sei ich auf der gleichen Wellenlänge. Ich hatte diese Antwort nicht ganz erwartet, aber irgendwie hatte ich verstanden, wonach er suchte.
Das war der Beginn unserer stillschweigenden musikalischen Kommunikation miteinander − ich lernte, die Stimmungen und Effekte umzusetzen, die er erzeugen wollte, und er fing an, mir zu vertrauen.
Climate of Hunter wurde im März 1984 veröffentlicht und erreichte Platz 60 in den UK Album-Charts. Es wurde von der Kritik gelobt, war aber ein kommerzieller Misserfolg. Virgin hatte eine ganz andere Platte erwartet − wahrscheinlich eher wie die alten Hits.
Eine neue Chance
Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis 1994 das Nachfolgealbum Tilt erschien. Ich erfuhr später, dass Scott mit einem anderen Produzenten zu arbeiten begonnen hatte, aber schon früh aus dem Recording-Prozess ausgestiegen ist. Tilt war noch kompromissloser als sein Vorgänger … und sein Schöpfer war genauso kompromisslos wie immer.
Und wieder gab es keine Demos, aber dieses Mal hatte ich eine viel bessere Vorstellung davon, wohin wir wollten. Wie Climate of Hunter wurde das Album von der Kritik gelobt − mit dem zusätzlichen Bonus, dass es kommerziell etwas besser abschnitt und Platz 27 in den britischen Album-Charts erreichte. Tilt war nicht nur meine Lieblingsarbeit mit Scott, die Aufnahmen haben auch am meisten Spaß gemacht.
Wir hatten eine spezielle Kommunikation zwischen uns entwickelt, und es schien, als gäbe es keine Grenzen. Wenn Scott »big« wollte, meinte er es auch so! Für den Song Manhattan wollte er den »biggest« Orgelsound der Welt. Obwohl die Royal Albert Hall die größte Pfeifenorgel in Großbritannien hat, waren die Kosten unerschwinglich. Also gingen wir zur Central Methodist Church in Westminster, die mit ihren sehr beeindruckenden 32-Fuß-Pfeifen eine bombastische Alternative darstellte. Die wahre Farbe eines jeden Instruments liegt im Raum, in dem es gespielt wird. Ich stellte also ungefähr 14 Mikrofone in verschiedenen Abständen zu den Orgelpfeifen auf. Der Sound war atemberaubend! Nach der Aufnahme sprangen wir alle in ein Taxi und fuhren zurück zu den RAK Studios, um zu checken, ob wir die Ungeheuerlichkeit eingefangen hatten. Während der Track in einer ohrenbetäubenden Lautstärke lief, erschauderte der Raum. Ein breites Grinsen breitete sich auf Scotts Gesicht aus. »Das wird sie lehren!«, rief er. Er war glücklich. Ich war erschüttert und erleichtert.
Ute Lemper – Jarvis Jocker – Pulp
Vor dem nächsten Studioalbum Drift machten Scott und ich eine weitere lange Pause und arbeiteten an einer Reihe von Live-Projekten und Studio-Kollaborationen. Im Jahr 2000 haben wir für Ute Lempers Album Punishing Kiss zwei Songs aufgenommen, Scope J und Lullaby, und im Jahr 2002 haben wir Pulps Album We Love Life produziert.
Es war interessant zu hören, wie er bei beiden Produktionen einen ähnlichen Stil verwirklichte, sich stark auf Streicher bzw. Orchester als Haupttexturen stützte und neue und aufregende Klänge in den Mix einführte.
Wir hörten auf, ein paar musikalische »Honigtöpfe« aufzunehmen, obwohl Scott anfangs fasziniert davon war. Aber die Darbietung klang mehr nach Flatulenz als nach der Bassflöte, die uns versprochen worden war. Viel später, auf Bish Bosch, haben wir tatsächlich Furzaufnahmen gemacht, aber wir hatten diesen Punkt noch nicht ganz erreicht!
Immer weiter lernen
2005 unterschrieb Scott bei 4AD Records, einem Label, das seine außergewöhnliche kreative Vision verstand und unterstützte. Die folgenden Alben Drift und Bish Bosch festigten sein Ansehen als einer der weltweit am meisten verehrten Innovatoren von Avantgarde und experimenteller Musik.
Im Laufe der Jahre haben wir unsere eigenen Techniken entwickelt, um sie an jede Aufnahmesituation anzupassen. Als sich die Technologie änderte, bewegten wir uns mit … wenn auch langsam. Wir waren skeptisch gegenüber Digitalaufnahmen und zogen es vor, für Schlagzeug, Bass und Gesang analog zu bleiben.
Mit der Komplexität dieser Alben lernte ich neue Wege, Sounds zu layern und ihm die Klanglandschaften zu ermöglichen, die in seinem Kopf waren. Bevor ich mit Scott zusammengearbeitet habe, habe ich immer Hall-Effekte verwendet, um ein Signal zu zerstreuen und es im Mix angenehm zu platzieren. Bei Scott haben wir Hall mit genau der entgegengesetzten Absicht verwendet, nämlich, um einen bestimmten Klang von einem anderen zu trennen.
Kürzlich hatten wir auch zwei große Soundtracks für Filme produziert, die von Brady Corbet geleitet wurden: Childhood of a Leader zeigt, wie ein politischer Diktator als Kind geformt wird, und Vox Lux ist ein Werk über den korrupten Einfluss des Popstar-Erfolgs mit Jude Law und Natalie Portman. Der große Spielraum von Scotts Klangfantasie auf der großen Leinwand war phänomenal. Ich bin mir sicher, dass dies nur der Beginn einer weiteren bemerkenswerten Reise war.
Ich bin am Boden zerstört, dass er weg ist. Scott hinterlässt ein riesiges Erbe außergewöhnlicher Musik. Sie wurde an den renommiertesten Orten der Welt gespielt und aufgeführt: im Royal Opera House, in der Royal Festival Hall und in Sadlers Wells in London, im Sydney Opera House, in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles, in Da Doelen in Rotterdam … um nur ein paar zu nennen.
Kurz vor seinem Tod sprachen wir über die Aufnahme eines neuen Albums. Ironischerweise hatte er dieses Mal ein Demo dafür vorbereitet. Ich weiß nicht, ob ich es jemals hören werde.
Scott und ich hatten ein Ritual, wenn wir uns nach einem langen Tag im Studio verabschiedeten. »Sag nicht, dass es keinen Spaß gemacht hat«, würde ich sagen. »Weil es nicht so ist!«, würde er antworten. Und wir würden darüber lachen.
Ruhe in Frieden Scott, mein Freund.
Co-Produktionen von Scott Walker und Peter Walsh
1984 − Climate Of Hunter − Album (Virgin)
1995 − Tilt − Album (Fontana)
1999 − Meltdown Festival London − Soundtrack für Richard Alston Dance Co.
2000 − Punishing Kiss − two songs for Ute Lemper compilation (Decca)
2001 − We Love Life − Album mit Pulp / Jarvis Cocker (Island)
2005 − Acoustic Ladyland − Saltwater remix (V2)
2006 − Drift − Album (4AD)
2006 − Darkness − ein Song für eine Plague Songs Compilation (Artangel)
2007 − And Who Shall Go To The Ball − Album / Soundtrack (4AD) (Festival Hall, London)
2008 − Drifting and Tilting − live (Barbican, London)
2010 − Duet For One − Soundtrack (The Royal Opera House, London)
2012 − Bish Bosch − Album (4AD)
2013 − Bish Bosch − Ambisymphonic Installation (Sydney Opernhaus)
2014 − Soused − Album mit Sunn O))) (4AD)
2015 − Childhood Of A Leader − Film Soundtrack & Album (4AD)
2016 − Childhood Of A Leader − live zur Leinwand (International Film Festival, Rotterdam)
2016 − Icebreaker − Live-Arrangement von Epizootics (Milton Court, London)
2017 − The Title Is In The Text − Soundtrack für Ballet Boyz (Sadlers Wells, London)
2017 − Rubato − Filmmusik (Walt Disney Concert Hall, Los Angeles)
2018 − Vox Lux − Film Soundtrack & Album (Columbia)
Danke – sehr rührend. Kann ich voll nachfühlen. Auch wenn ich Scott nur vom Hören kenne. Die Stimme empfinde ich bis heute noch innerlich so berührend. Für mich gilt grundsätzlich, dass Musik, Gesang das Herz erreichen muss, um zu “bewegen”, die Seele zu berühren. Segen für seine Seele.