»Es geht darum, die Session zu einem Event zu machen«
Adventure Recording: Interview mit Produzentin und Tontechnikerin Sylvia Massy
von Nicolay Ketterer,
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(Bild: Dirk Heilmann)
Eines der Aufnahmekonzepte von Sylvia Massy besteht in Sessions an ungewöhnlichen Orten wie stillgelegten U-Bahnhöfen oder im Kühlturm eines Atomkraftwerks. Damit möchte sie ungewöhnliche Performances bei den Musikern hervorrufen und gleichzeitig einmalige Erinnerungen schaffen. Wir haben sie beim Besuch der Studioszene in Köln zum Interview getroffen.
Die amerikanische Produzentin und Tontechnikern Sylvia Massy (siehe auch Reportage zum Recording-Workshop in S&R 01.2017) hat im Laufe ihrer über 30-jährigen Karriere mit Tool, Johnny Cash, Tom Petty & The Heartbreakers, System Of A Down, Avatar oder Prince gearbeitet. Im Rahmen der »Studioszene«-Veranstaltung in Köln, wo sie für zwei Vorträge zu Gast war, erzählte sie uns beim Interview von ihrer Herangehensweise »Adventure Recording« − mit Sessions an skurrilen Orten wie stillgelegten U-Bahnhöfen oder im Kühlturm eines Atomkraftwerks.
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Sylvia Massy, Mick Guzauski and Peter Walsh provide feedback to some mixes at the Studioszene 2019
Wie würdest du dein Konzept »Adventure Recording« definieren?
Der Ansatz besteht darin, außerhalb des Studios aufzunehmen. Es geht darum, die Session zu einem Event zu machen − so denkwürdig, dass der Hörer die Begeisterung in der Musik nachempfinden kann.
Eine Session habe ich zum Beispiel mit der britischen Band God Damn gemacht: Wir sind in die Londoner U-Bahn-Station Aldwych gegangen, die seit den 1980er-Jahren stillgelegt ist. Am Bahnsteig existieren zwei Gleise: Auf einem stand ein alter Zug, das andere ließ uns in den offenen Tunnel blicken. Wir nahmen Schlagzeug auf der einen Seite auf, Gitarre und Gesang auf der anderen. Dazu bauten wir zwei Recording-Rigs gleichzeitig auf, weil wir die Station nur für eine Stunde gebucht hatten − die Miete kostete 1.000 Pfund! Ich hatte einen zweiten Engineer dabei, wir rannten die Treppen hinunter, bauten auf und die Band spielte. Wir schafften es vor Ablauf der Zeit. Das war aufregend und klang unglaublich − das werde ich niemals vergessen. Wir nahmen auch Videomaterial auf − das sind tolle Promotion-Werkzeuge für die Veröffentlichung, denn Visuals sind schließlich wichtiger denn je.
Weshalb war die Miete so teuer?
Die Station ist eine beliebte Location für Filmaufnahmen. Die Stadt ist deren Budgets gewohnt, Filmproduktionen bleiben auch für Wochen dort! Für eine Stunde müssen sie trotzdem die Lichter anmachen. Dort unten liegt kein Strom, und die Betreiber schicken erstmal zwei Leute runter, um alles zu inspizieren, was nicht ganz ungefährlich ist. Die Aufnahme wurde richtig gut, und die Platte kommt 2020 heraus.
Der Aldwych-Tunnel ist auch interessant, weil der stillgelegte Zug sehr unheimlich wirkt.
Es existieren noch weitere solche U-Bahn-Stationen, zum Beispiel eine in Birmingham, zu der man Zugang bekommen kann. Die in Adwych ist gut erhalten, mit Fliesen aus den 1940ern, sehr klassisch. Die in Birmingham ist ein heruntergekommenes Wrack, komplett ohne Licht − du musst dort mit Taschenlampen runtergehen!
“Ich versuche, bei jeder Session eine Besonderheit unterzubringen, als Erinnerung.”
Wie nimmst du in derart »Recording-feindlichen« Gebieten unkompliziert Mehrspurprojekte auf?
Durch das Remote-Recording habe ich ein Sounddevices MixPre-10M entdeckt, auf das ich nicht mehr verzichten möchte − ein kleines Gerät, das ich an einem Gurt um die Schulter hängen kann, mit acht hochwertigen Preamps. Die Mikrofone kann ich per XLR anschließen, und es ist ein Multitrack-Rekorder, der sich über die Oberfläche bedienen lässt, komplett akkubetrieben − ein Wunder!
Eine der ersten Aufnahmen, die ich damit machte, fand mit einem Punkrock-Projekt statt, Lucy Loves Fur: Wir schlichen uns in die Dresdner »Gemäldegalerie Alte Meister«, und ich nahm den Gesang auf, während die Sängerin auf ein großes Gemälde blickte. Wir flogen fast raus, aber es klappte, und das Personal hat nie mitbekommen, was wir da machten. »Flash Recording« in einem Kunstmuseum geht mit dem richtigen Equipment − jetzt, da ich zum Aufnehmen sozusagen »von der Leine« bin, begeistere ich mich für alles Mögliche: Südpol! Nordpol! …
… oder in einem Vulkan?
Darüber habe ich bereits nachgedacht! Ich wollte allerdings einen, der noch aktiv ist, mit Lava. Hawaii scheint dafür geeignet zu sein − ich habe nur noch keinen gefunden, der nicht zu gefährlich ist.
Was hat denn die abenteuerlichen Aufnahmesituationen ausgelöst? War das zufällig bei einer Session passiert?
Ja, das hat vermutlich bei einer Session mit Tool angefangen. Damals wollte ich den abscheulichsten Klang überhaupt aufnehmen. Was könnte das sein? Ich dachte, vielleicht lassen wir ein altes Klavier vom Dach eines Gebäudes fallen. Der Crash wäre wohl ein ziemlich abscheuliches Geräusch, wenn all die Saiten reißen. Ich besorgte mir zwei Klaviere, fand aber niemanden, der mir helfen könnte, sie aufs Dach zu bekommen. Ich hätte einen Kran gebraucht − der war entweder viel zu teuer, oder die entsprechenden Firmen wollten von der Idee nichts wissen. Stattdessen brachten wir ein Klavier in den Backstage-Bereich eines Studios in Los Angeles. Ich kaufte ein paar Vorschlaghämmer, Äxte, Schutzbrillen und Sicherheitshandschuhe. Die gab ich den Bandmitgliedern, und wir nahmen auf, wie das Klavier zusammengeschlagen wird. Auf die Art konnten wir die Erfahrung »ausweiten«. (lacht) Der Schlagzeuger brachte eine Shotgun mit, und wir schossen darauf. Seitdem habe ich allerdings eine besondere Wertschätzung für den Bau von Klavieren und für Klavierbauer. Die einzelnen Stücke sind so kompliziert gefertigt und verleimt! Ich hatte damals ein sehr schlechtes Gewissen … Aber das Piano war ohnehin defekt und nicht mehr instandsetzbar gewesen. Und es »weinte«, während wir es »umbrachten«. Seitdem habe ich kein Piano mehr zerstört − nur andere Sachen!
Das war damals ein Event, an das wir uns immer erinnern würden − seitdem versuche ich, bei jeder Session eine kleine Besonderheit unterzubringen, als Erinnerung. Ob die Aufnahme nachher erfolgreich ist, macht keinen Unterschied − es geht nur darum, das gemacht zu haben. Das hebe ich für das Ende auf, sodass wir keine Zeit vorher verschwenden. Wenn’s nicht mehr reicht, lasse ich es weg. Umgekehrt gilt: Wissen wir, dass am Schluss dieses Event als »Belohnung« wartet, ist jeder schneller mit seinen Overdubs fertig, Gitarristen halten sich nicht zu lange mit ihrem Sound auf. Die Idee hilft, die Session am Laufen zu halten.
Einmal habe ich die Gruppe »The Machines Of Loving Grace« aufgenommen. Als Belohnung wollten wir eine Gitarre über eine Klippe werfen und das Amp-Signal aufnehmen, wenn sie unten aufschlägt. Während der Aufnahmen hatte ich die zu opfernde Gitarre bereits dabei, eine billige Strat-Kopie. Jeder begann, sie zu dekorieren, zu bemalen, zu bearbeiten, bis sie wirklich speziell und schön aussah! Am Ende bohrten wir ein Loch, um ein Rückholseil zu befestigen. Wir schlossen ein extrem langes Instrumentenkabel an, schleppten ein Marshall-Stack mit sehr langem Verlängerungskabel auf die Klippe, drehten bis zu schreiendem Feedback auf und schmissen die Gitarre über den Rand. Sie schlug mehrfach auf, der Hals brach ab − danach zogen wir sie wieder die Klippe hinauf. Das nahm ich auf, aber die Aufnahme passte nicht wirklich zu dem elektronischen Album. Das störte nicht, weil wir das nie vergessen werden. Die zerbrochene Gitarre wurde danach in einen Rahmen montiert und an die Wand gehängt, als Trophäe − sie sah toll aus!
Was die kompletten Sessions auf »Abenteuerspielplätzen« betrifft − inwiefern hast du das Gefühl, dass die Umgebung die Performance beeinflusst?
Für mich ist die Umgebung, in der die Aufnahme stattfindet, genauso wichtig wie das gesamte Equipment, vielleicht sogar noch wichtiger: Die Umgebung prägt die Performance und auch die Aufnahme. Wenn zum Beispiel ein Sänger in einer Gesangskabine singt, liefert er dir eine bestimmte Performance. Stellst du ihn in eine Kirche oder Kathedrale und nimmst dort auf, wird er den gleichen Song ganz anders singen.
Du meinst, die Leute sollten keine Angst vor Nebeneffekten wie langem Hall im Direktsignal haben, sondern sie sich zu eigen machen?
Ich finde es großartig, wenn sich Hall in eine Gesangsspur »einschleicht«. Natürlicher Nachhall erscheint mir reizvoll − besonders bei großen Räumen. Ich verwende viel Kompression, daher wird das offensichtlich herausgestellt. Für manche sind es Fehler, ich finde es magisch.
Bei kleinen Räumen wäre es wahrscheinlich problematischer, weil du unangenehm klingende Erstreflexionen einfängst, die durch Kompression deutlich herausgestellt werden?
Exakt! Zu Hause habe ich ein Studio, das praktisch keine Wände hat − ein großer Raum in einer alten Kirche. Den Gesang nehme ich direkt neben der Konsole auf, ohne Booth oder Glas. Dadurch, dass der Raum so groß ist, stören keine direkten Reflexionen. Die Performances, die entstehen, sind fantastisch! Stark gedämmte kleine Räume funktionieren gut für Sprache oder Voice-Over, aber wie soll eine klaustrophobische Booth denn bitte deine Gesangs-Performance verbessern?
Welches Projekt hast du zuletzt gemacht?
Gerade bin ich vom Yukon River in Nordkanada zurückgekommen. Wir nahmen in einem Mini-Hausboot auf dem Fluss auf, was ebenfalls unglaublich war [die Session fand mit dem Singer/Songwriter Driftwood Holly statt; Anm.d.Aut.]. Dort ändern sich Temperatur und Feuchtigkeit permanent, und daher weiß ich nun, dass unter diesen Bedingungen Instrumente aus Karbonfiber die Stimmung viel besser halten als solche aus Holz. Ansonsten: Schlösser sind tolle Orte zum Aufnehmen! Allein dort zu arbeiten, lässt die Performances besonders werden. Ich habe auch in einem Gefängnis auf einer Insel beim Hafen in Helsinki gearbeitet, was sehr aufregend war.
Warst du nicht auch in einem verlassenen Atomkraftwerk?
Oh ja! Das Kraftwerk befindet sich im Staat Washington − es wurde nie fertig gebaut, ging also nie ans Netz, dadurch war es nicht mit Radioaktivität belastet. Wir bekamen Zugang zu den Kühltürmen und nahmen die Band Thunderpussy in einem der Türme auf. Das war akustisch einzigartig! Ich wurde allerdings kürzlich eingeladen, nach Tschernobyl zu kommen − in Sachen Radioaktivität logischerweise das Gegenteil. Soweit ich es verstehe, funktioniert es, sich dort nur begrenzte Zeit aufzuhalten. Das mache ich eventuell. Es gibt auch jede Menge andere Orte, zu denen ich gerne gehen würde: Zum Beispiel bei einem Space-Shuttle-Flug. Ich habe nachgeforscht − das würde allerdings 50 Millionen Dollar pro Ticket kosten, und ich müsste noch mindestens zwei Musiker mitnehmen. Da warte ich also praktisch noch auf etwas Hilfe von Elon Musk und Richard Branson, die ja beide Raumfahrtfirmen haben.
Bild: Chris Johnson
Blick auf einen Kühlturm des nie in Betrieb genommenen Atomkraftwerks Satsop
im US-Bundesstaat Washingen
Bild: Chris Johnson
Sylvia Massy nahm in einem der Türme die Rockband Thunderpussy auf.
Bild: Chris Johnson
Die massive »Hallkammer« lieferte laut Massy eine einzigartige Akustik.
Deine Grundidee bestand darin, in Schwerelosigkeit aufzunehmen?
Nun, die Frage ist, welchen Effekt Schwerelosigkeit auf Musikinstrumente hat: Eine Akustikgitarre dürfte noch recht normal funktionieren, ein Klavier allerdings nicht. Da bin ich neugierig. Die menschliche Stimme könnte sich ebenfalls unter atmosphärischen Einflüssen verändern. Das ist aber erstmal von der Liste gestrichen.
Aber in Florida existiert ein Unterwasserlabor, dass sich nur per Gerätetauchen erreichen lässt. Dann kannst du eine Woche dortbleiben! Ich denke darüber nach, eine Crew mit Instrumenten dorthin zu bringen, um ein, zwei Songs darin aufzunehmen. Das sollte durch den atmosphärischen Druck unter Wasser interessant werden! Eine Aufnahme in der sixtinischen Kapelle wäre ebenfalls klasse!
Kürzlich habe ich in einer Grabkammer außerhalb Roms aufgenommen, mit der Band Spiritual Front. In der Gegend existieren 60.000, 70.000 Grabkammern! Wir bekamen Zugang und fanden eine ansprechende Kammer, in der sich auch keine Gebeine befanden. Das ist ein kleiner akustischer Raum, aus Stein gemeißelt, das fand ich klanglich reizvoll. Pyramiden sind ebenfalls interessant. Ich warte auch noch auf das passende Projekt, das ich zum Südpol mitnehmen kann; ich stehe in Kontakt mit einer Firma, die Touren zum Südpol organisiert. Die meinten, sie würden uns ein nettes Iglu bauen! Der Trip, dort hinzukommen, dauert ein paar Tage, und dann könnten wir dort campen.
Könnte die Kälte nicht der Performance einen Strich durch die Rechnung machen?
Ich weiß! Die Musiker müssten mit Handschuhen spielen. (lacht) Es gibt bestimmt eine Möglichkeit, das hinzubekommen. Ein Iglu soll eigentlich recht gut isolieren. Mal schauen − ein paar Künstler sind daran interessiert, und jede Menge Tontechniker haben sich gemeldet, 10 bis 20 meldeten Interesse an! Wahrscheinlich biete ich an, dabei einen Recording-Workshop abzuhalten, sodass neben den Musikern noch 10, 20 Tontechniker mitkommen könnten.«