Dick mit mehreren Schichten eingepackt, traue mich wieder auf die Straße und mache mich auf den Weg zum Velveteen-Studio. Draußen bekomme ich eine Nachricht von Randor Linn, meinem Ansprechpartner: »Hey Marc, ruf an, wenn du da bist, ich mach dir dann die Tür auf! Die Fronttür ist zugefroren!« Mein erster Gedanke: »Wirklich? Ich muss bei minus 37 Grad meine Handschuhe ausziehen, um mein iPhone bedienen zu können? :)« Was wie ein Witz klingt, war eigentlich auch ernst gemeint. Denn nachher hatte ich wirklich eine kleine Kälteverbrennung, da ich das eine oder andere Bild unterwegs mit meine iPhone gemacht habe. Aber es hat sich auf jeden Fall gelohnt.
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Randor öffnet mir dir Tür und stellt mich Brad Simons vor, einem seiner Partner. Insgesamt sind sie vier Engineers, die das Studio betreiben, bald kommt sogar ein fünfter dazu. Auf die Frage, wer das Studio leitet, bekomme ich nicht wirklich eine Antwort: »Wir haben Velveteen Audio 2009 gegründet. In dieser Location sind wir allerdings erst seit Juni 2016. Wir führen es gemeinsam, es gibt keinen Boss«, sagt Brad! Randor ergänzt: »Ich bin jetzt seit einem Jahr dabei. Ich hatte vorher ein eigenes Studio und hab jetzt auch wie jeder meinen Kram hier mit eingebracht, das hat sich sehr gut ergänzt. Die Recordings machen wir alle zusammen, und auch das Mixing läuft in-house. Lediglich das Mastering geben wir an ein Studio in Toronto ab.«
Brad: »Wir produzieren hier eigentlich jedes Genre. Aktuell sind es viele Jazz-Sachen. Und dadurch, dass wir mehrere Engineers sind, bringt auch jeder durch seine Kontakte unterschiedliche Produktionen hier rein. Das macht die Arbeit sehr interessant und abwechslungsreich! Derjenige, der die Produktion an Land zieht, ist dann auch praktisch der Head-Producer.«
Auf meine Frage, wer bei Produktionen das letzte Wort hat, reagieren beide mit einem kleinen Schmunzeln. Brad: »Wir sind gerade dabei, das herauszufinden! (lacht) « Da habe ich wohl ins Schwarze getroffen!
Brad: »In der Regie haben wir neben der SSL Matrix2 sehr viel Outboard von Chandler, API, Universal Audio, Focusrite und SSL. Unser neuestes Schätzchen ist der SSL Fusion, der klingt einfach unglaublich. Das ganze Outboard läuft in die Matrix, die mehr als Summierer der Line-Signale fungiert. Sie hat keine Preamps, EQs oder Dynamics! Wir nutzen sie sozusagen als digitale Patchbay. Wir haben hier auch einen Pultec-EQ, den Warm Audio LA-2A, die wir praktisch wie Plug-ins in den Signalfluss einbinden. Die Ausgänge der Matrix laufen dann in unser neues Apollo X16 Audio-Interface. Natürlich nutzen wir auch viele UA-Plug-ins auf unserem Pro-Tools-2019-System.«
Randor: »Bevor wir hier gemeinsam in das Studio gezogen sind, haben wir alle viel out-the-box gemischt. Hier haben wir dann A/B-Vergleich zu in-the-box gemacht und uns dann auch wegen der Recall-Funktion für eine allgemeine Arbeitsweise in-the-box entschieden.«
Brad: »Unser kleiner Aufnahmeraum klingt wirklich sehr tight, es gibt hier wenig Reflexionen! Egal, was du hier vor ein Mikrofon packst, es klingt alles wirklich sehr nah an dem, was du im Raum hörst. Der große ist das absolute Gegenteil. Er besitzt eine spezielle Klangcharakteristik mit viel Hall. Wir nutzen ihn für Drum-Recording, aber auch für Vocals eignet er sich, wobei der Raumanteil dann doch hörbar ist! Aber wir arbeiten hier auch viel mit Gobos und Teppichen zum Abhängen der Wände, um den Raumanteil zu reduzieren!«
Die beiden zeigen mir stolz ihre Mikrofonsammlung. Ein U87 dient meistens als Vocal-Mikrofon. »Das wechselt aber eigentlich auch alle zwei Monate. Miktek CV4 und Shure SM7 nutzen wir auch häufig!« Brad: »Randor und ich sind uns im Sound oft auch einig, aber mit unserem anderen Brad gibt es da öfter mal Diskussionen!« Randor: »Brad und ich mögen beispielsweise das Sony ECM-999PR Stereomikrofon an der Akustik-Gitarre. Und der andere Brad sagt immer, das würde klingen wie Plastik! Aber so muss jeder für sich seinen Sound finden. Was für mich funktioniert, kann für andere nicht funktionieren und umgekehrt. « Sie haben auch zwei Neumann M49 in ihrer Sammlung, die bei allen sehr begehrt sind.
Vor meinem Besuch habe ich mich für den Newsletter des Studios angemeldet. Die Jungs liefern dort Tutorials, die Bands zeigen, was sie mit ihrer Musik nach der Aufnahme machen können: Von der Vermarktung ihrer Musik über Streaming-Dienstleister bis hin zu Touring! Dazu sagt Brad: »Wir wollen den Bands zeigen, was sie mit ihrer Musik zur Promo machen können. Da wissen viele nicht richtig Bescheid.«
Ich möchte von den beiden wissen, ob es für sie weiterhin Sinn macht, komplette Alben zu produzieren. Brad: »Eigentlich brauchst du zuerst nur eine Single, um die Wahrnehmung zu erhöhen. Dann kannst du dazu Content machen und den regelmäßig auf deinen Kanälen streuen. Damit bis du immer aktuell. Nach drei Monaten kommt dann die nächste Single, damit du den Leuten auch was Neues liefern kannst und nicht nur auf alte Sachen zurückgreifen musst. Irgendwann macht es dann Sinn, eine EP aufzunehmen, auf der die alten Songs auch wieder drauf sein können.« Randor ergänzt: »In Zeiten von Playlists spielt das einfach keine Rolle mehr. Die Leute hören sowieso am meisten Playlists und eben nur noch einzelne Songs. Außerdem sind Songs nach drei Monaten auch schon alt. Ich weiß auch nicht, wann ich das letzte Mal ein ganzes Album durchgehört habe.«
Mich interessiert es, ob man mit Touring in einem so großen Land wie Kanada, wo die Reisekosten unglaublich hoch sein müssen, Geld verdienen kann. Brad: »Eigentlich schon, aber du hast natürlich recht, bei der Größe unseres Landes, wo es gut sein kann, dass man neun Stunden vom einen zum anderen Gig braucht, ist es natürlich schwierig. Für kleine Bands ist es hier in der Stadt auch schon hart, Leute zu ziehen. « Randor: »Ich kann dir nicht sagen, wie oft wir mit den Bands, in denen ich gespielt habe, vor den Angestellten der Location und vielleicht zwei, drei Leuten gespielt haben.« Brad: »Es gibt da Förderprogramme, aber da ist sehr schwer dranzukommen. Außerdem sind die Leute hier in der Stadt auch nicht bereit, viel Geld für kleine Bands auszugeben. Die spielen meistens für kleines Geld oder nur Trinkgeld.« Brad: »Aber du musst eben auch spielen, um irgendwie präsent zu sein.«
Am Schluss verlieren wir uns beim Thema Eishockey. Es ist einfach überall! Mit Randor gehe ich nach meinem Besuch im Velveteen Studio noch zum Spiel der Edmonton Oilers gegen die Nashville Predators! Die Oilers gewinnen 4:2 unter anderem durch zwei Tore des deutschen NHL-Superstars Leon Draisaitl. Zum Schluss des letzten Drittels packt Randor einen kleinen Sender aus und startet schon mal das Auto, was vor der Arena auf dem Parkplatz steht, damit es sich schon mal aufwärmen kann. In Deutschland hätte ich ihn dafür belächelt, hier ist das fast überlebensnotwendig!