Hast du eigentlich schon mal über all die Entscheidungen nachgedacht, die du nicht machst, und die stattdessen von anderen oder Cookie-basierten Algorithmen für dich getroffen werden?
Ein Beispiel: Vor Kurzem, auf einem Langstreckenflug, habe ich das Flieger-interne-Entertainment-System durchforstet in der Hoffnung, neue Musik mit dem gewissen Etwas zu finden. Es ist schon etwas her, dass ich Radio gehört hatte, so war ich gespannt auf frische inspirierende Musik, aber vergebens. Ed Sheeran war bei nahezu jeder Playlist ganz weit oben. Woher kommt das?
Natürlich hat das damit zu tun, wie diese Playlisten entstehen. Bei Streaming-Diensten genauso wie bei Entertainment-Systemen im Flugzeug: Irgendjemand entscheidet, welche Songs du da hören willst. Schau dir die Playlist-Kuratoren an, die Influencer, die neuen A&Rs des heutigen digitalen Zeitalters. Das sind die Leute, die die Entscheidungen über Künstler und deren Musik treffen, bevor wir sie überhaupt erst hören. Influencer treten mehr und mehr in alle Bereiche unseres Lebens und beeinflussen unsere Meinung über das, was wir konsumieren. Sie erzählen uns, was wir tragen sollen, was wir essen wollen etc. und natürlich was wir hören werden.
Ein Musikkurator ist jemand, dessen Job es ist, frische
Musik vom Label, Händler oder Indie-Künstler zu hören, um diese zu kategorisieren. Menschen wie du und ich können das machen ohne jegliche Ausbildung oder Qualifikation. Sie sortieren oder filtern Musik in Genres, nutzen Kategorien wie melodiös, Gefühl, Instrumentation, Gender-orientierung und alles, was man sich nur vorstellen kann, und machen das hundert- oder gar tausendfach jeden Tag.
Zurück zum allgegenwärtigen Ed Sheeran. Ehrlich gesagt dachte ich, er hätte so langsam abgedankt. Das Letzte, was ich von ihm mitbekommen hatte, war, dass er eine Auszeit genommen hat, um eine Gruft unter einer Kirche herzurichten – in Sheeranville. Aber nein, er ist noch immer ziemlich dabei. Oder zumindest denkt der Playlistenkurator das. In jeder Playlist war er ganz oben oder knapp darunter, ganz egal, wie sie hieß: Mainstream Pop, New Music Mix, sogar Essential Acoustic. Ed war dabei!
Fürs Protokoll möchte ich hier anmerken, dass ich rein gar nichts gegen Ed Sheeran habe. Ich denke, er hatte einen guten Lauf, er hat ein paar catchy Sounds getroffen, aber ich habe mich an seiner Musik einfach sattgehört. Jemand oder etwas – wie auch immer – glaubt jedoch das Gegenteil. Es scheint, Ed ist noch immer Treffer Nr. 1 meiner Suchanfragen für die männliche Pop-Kategorie. Und wenn’s nicht Ed ist, ist es jemand, der ihm zum Verwechseln ähnlich klingt. Das bringt mich zu Eds gegenwärtigem Rechtsstreit mit Sammy Switch, in dem er beschuldigt wird, Sammys Hookline »Oh Why Oh Why Oh Why Oh« geklaut und in »Oh I Oh I Oh I Oh« gedreht zu haben, das in seinem 2017er Megahit Shape Of You zu hören ist.
Dieser Song hat 3 Milliarden Plays auf Spotify, und angeblich gibt es bereits ein Urteil über 20 Millionen Pfund Lizenzgebühren. Ob Shape Of You tatsächlich ein Plagiat ist oder nicht, da mögen die Musikwissenschaftler noch drüber streiten, aber meiner bescheidenen Meinung nach klingt es doch eine Winzigkeit zu ähnlich.
Aber Sekunde: Es ist nicht überraschend, dass so etwas passieren musste, und es scheint, als würde so etwas noch viel häufiger passieren. Dua Lipa ist ebenfalls im Rechtstreit wegen zwei Klagen, die ihren Song Levitating betreffen. Das war vorhersehbar: Vieles der heutige Musik klingt sehr ähnlich. Viele Künstler klingen so ähnlich, dass man sie nur schwer voneinander unterscheiden kann.
Wo ist die Diversität? Wo sind alle die wunderbaren Reffrains hin? Songs wie Ain’t No Mountain High Enough, We are the Champions, Rocket Man. Sie sind begraben unter einem Berg von Kategorien, Sie werden wohl nur noch gefunden in Playlists wie »Sounds of the 80s«, »Golden Oldies« oder Ähnlichen. So, als können sie neben modernen Künstlern nicht bestehen.
Der Versuch, den automatischen Streaming-Algorithmen zu entsprechen, und der Wunsch, den Playlist-Kuratoren zu gefallen, hat den Inhalt neuer Musik im Allgemeinen stark eingeengt. Melodie, Harmonie und Rhythmus werden sich immer ähnlicher, und Pop-Songs verschmelzen zu einem homogenen Stil. Plattenfirmen wagen es kaum, in innovative Künstler zu investieren, die ihrerseits gezwungen sind, einem Trend zu folgen, und dadurch werden auch Urheberrechtsverletzungen häufiger.
Vielleicht wurde Ed auch nur von einem Influencer re-influenciert, den er seinerseits influencierte?