Interview mit »All The Music«-Projektleiter Damien Riehl zum Urheberrecht
von Nicolay Ketterer,
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Akkordfolgen sind in der Musik frei verwendbar, Melodien nicht: Der amerikanische Anwalt Damien Riehl will das ändern – schließlich sei es möglich, zufällig auf ein ähnliches Ergebnis zu kommen, und gleiche Tonfolgen könnten in einem anderen Kontext völlig unterschiedlich wirken.
Die westliche Tonleiter bietet zwölf unterschiedliche Töne pro Oktave – trotzdem sind Abermillionen Melodien möglich. Akkordfolgen sind aufgrund ihrer übersichtlichen Möglichkeiten frei verwendbar, für Tonfolgen gilt das nicht – was immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten führt. Dem wollte der amerikanische Anwalt Damien Riehl 2019 mit dem Projekt »All The Music« gemeinsam mit dem Programmierer Noah Rubin ein Experiment entgegensetzen: Die beiden haben über Algorithmen mittlerweile 400 Milliarden Melodien generiert und jegliche Rechtsansprüche mit dem Verzicht auf Rechtsansprüche zur Nutzung freigegeben. Der Gedanke: Theoretisch könnte niemand mehr eine »neue Melodie« für sich beanspruchen, weil sie bereits existiert – und jeder dürfte die Melodien nutzen. Ob das rechtlich anerkannt wird, steht noch auf einem anderen Blatt: Riehl geht es vor allem darum, für Probleme beim Urheberrecht zu sensibilisieren – ein Gespräch.
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Bei einem TEDx-Talk in Minneapolis präsentierte der Anwalt Damien Riehl sein Projekt »All The Music« – samt Erläuterung der Urheberrechts-Gesetzgebung:
Damien, du hast die Idee ursprünglich angestoßen, um aus deiner Sicht mit ein paar Ungerechtigkeiten im Urheberrecht aufräumen zu können?
Richtig, tatsächlich geht es um eine generelle Ungerechtigkeit, die ich auch in einem TEDx-Talk in Minneapolis erwähnt habe: Es ist nicht schwer, zufällig in einen Konflikt zu geraten, schließlich existieren nur zwölf Töne! Was ich mit dem Projekt demonstrieren wollte: Menschen, die nicht im Bereich Musik trainiert sind, vor Augen zu führen, wie leicht es passieren kann, zufällig dieselbe Melodie zu verwenden. Musiker wissen das, aber mir ging es darum, auch Laien – etwa in einer Jury und einen Richter – dafür zu sensibilisieren.
Als ein Beispiel für zufällig gleiche Melodien hast du George Harrison angeführt, dessen 1973er-Melodie von »My Sweet Lord« später als zufälliges Plagiat des 1962 von den Chiffons aufgenommenen Songs »He’s So Fine« gewertet wurde. Du meintest, kein Musiker könne vor Gericht beweisen, einen anderen Song nie gehört zu haben – und damit eine ähnliche Idee gehabt zu haben, ohne zu plagiieren. Man würde immer davon ausgehen, dass derjenige das Stück vielleicht unbewusst im Bus gehört haben könnte …
Stimmt! Zu beweisen, einen Song nie vorher gehört zu haben, ist aus philosophischer Sicht unmöglich. Philosophisch lässt sich eine Negation nicht beweisen. Andererseits erfordert fast kein Gerichtsprozess, eine Negation zu beweisen! Verklagt eine Person eine andere, obliegt dem Kläger die Beweislast, dass der Beklagte die Straftat tatsächlich begangen hat. Es geht nicht darum, zuallererst die eigene Unschuld beweisen zu müssen.
»All The Music«-Projektleiter Damien Riehl – den ersten Datensatz von Milliarden Melodien veröffentlichte er mit seinem Kollegen Noah Rubin im Juli 2019.
“Es ist nicht schwer, zufällig in einen Urheberrechtskonflikt zu geraten – schließlich existieren nur zwölf Töne!”
Was den George-Harrison-Fall angeht – dort wurde die Beweislast umgekehrt und dem Beklagten die Bürde auferlegt, wo sie nicht hingehört. Mein primäres Ziel bestand darin, die Beweislast wieder auf die Seite zu bringen, wo sie auch bei jedem anderen Gerichtsprozess liegt. Die Frage, die sich aufdrängt: Wie lässt sich das machen – zu beweisen, ob Person B einen Song von Person A gehört und kopiert hat? Es gibt jede Menge forensische Beweise: Falls die Person Musik auf Spotify hört, existieren dort Playlisten. Der Kläger könnte also anfordern, alle Songs einzusehen, die die Person auf Spotify in den letzten fünf Jahren gehört hat – oder alle YouTube-Videos, die in dem Zeitraum gesehen wurden. Während des Prozesses lässt sich also ein positiver Beweis erbringen, ohne dazu überzugehen, dass der Angeklagte die Negation beweisen muss.
So gesehen sind Urheberrechtsfälle genau wie alle anderen Fälle auch. Stehen wir beide auf einer Klippe und du fällst herunter, macht es einen Unterschied, ob ich dich dabei versehentlich angerempelt oder bewusst gestoßen habe! Das Ergebnis ist dasselbe, aber der Vorsatz macht den Unterschied. Im Urheberrechtsfall: Hat Person B absichtlich plagiiert oder schlicht zufällig einen Song geschrieben, ohne jemals von Person A gehört zu haben? Die Gleichheit ist nicht so ausschlaggebend wie der Vorsatz.
Rhythmik macht bislang keinen Unterschied im Urheberrecht. Wenn du eine bereits vorhandene Melodie schreibst, deren Notenlängen sich komplett unterscheiden, wäre die trotzdem als Plagiat einklagbar?
Richtig! Das Gesetz erfordert lediglich »substanzielle Ähnlichkeit«. Wie der Fall von George Harrison zeigte – obwohl der Rhythmus ein anderer war, lag substanzielle Ähnlichkeit vor. Auch wenn vielleicht ein, zwei oder fünf Töne der Melodie anders sind, liegt trotzdem die erwähnte Ähnlichkeit vor. Was »substanzielle Ähnlichkeit « letztendlich konkret bedeutet, hängt von der jeweiligen Jury oder dem Richter ab. Es gibt keine konkrete Anzahl von Tönen.
Abgesehen vom Rhythmus: Würden es einen Unterschied machen, wenn jemand die Begleitakkorde unterhalb einer Melodie komplett ändert?
Ich würde sagen, das macht keinen Unterschied. Du kannst dir zum Beispiel einen Cover-Song vorstellen – wenn du die Akkorde komplett änderst, aber die Melodie beibehältst, würde wohl niemand sagen, es sei kein Cover, nur aufgrund der geänderten Akkorde. Sie machen also keinen Unterschied.
Was ich unbedingt für eine Jury und einen Richter darlegen möchte: Die Separierung der Komponente Melodie von Akkorden, Rhythmus, Lyrics, Instrumentierung, Arrangement ergibt aus meiner Sicht keinen Sinn – all die Komponenten kreieren die Gestalt eines Songs! Lediglich einen aus dem Kontext herauszupicken – wie die Melodie – ist lächerlich, da das nur ein Teil darstellt. Betrachtest du mehrere Komponenten gemeinsam – wie Melodie plus Text, ist das Ergebnis offensichtlich: Dann liegt eine Kopie vor, hier ist substanzielle
Ähnlichkeit vorhanden.
Eine Akkordfolge lässt sich nicht urheberrechtlich schützen – sonst würde jeder Bluesmusiker gegen Copyright verstoßen. Das wäre lächerlich. Mein Argument: Eine Tonfolge schützen lassen zu können, halte ich für ähnlich lächerlich. Vielleicht weniger, da eine Melodie länger sein kann als eine Akkordfolge mit drei, vier Akkorden. Es ist naturgemäß leichter, bei Akkorden auf etwas bereits Vorhandenes zu stoßen. Wenn du es in einem Spektrum betrachtest – wie stehen die Chancen, dass du die gleiche Akkordfolge verwendest wie jemand anderes? Sehr hoch! Bei einer Melodie ist die Chance niedriger, aber es handelt sich immer noch um das gleiche Konzept.
Wenn nun nicht mehr die Möglichkeit bestünde, ein alleiniges Copyright auf eine prägende, einzigartige Melodie zu erwirken, wäre es dann überhaupt noch wirklich möglich, einen Song urheberrechtlich zu sichern?
Ja, du kannst dir die Gestalt als Copyright sichern, für den Song als Ganzes. Auf jeden Fall auch für eine Aufnahme; wie du den Song singst, oder die Art, wie du Gitarre spielst – das, was die Musik hörenswert macht! Wir hören schließlich Musik nicht bloß wegen der Änderung der Tonhöhe! Darauf ziele ich ab: Niemand interessiert sich primär für die Änderung der Tonhöhe, sondern für das Spiel der Musiker – eine mitreißende Stimme, eine süßlich gespielte Gitarre … nichts, was in der Melodie festgehalten ist, sondern komplett in der Performance. Ich würde also zwei Dinge hervorheben: Aufgenommene Darbietungen sind in jedem Fall urheberrechtlich schützbar. Was die zugrundeliegenden Kompositionen angeht: Nimm die Gestalt aller der Elemente – Melodie plus Rhythmus, Akkorde, Lyrics und weitere Aspekte wie die Dynamik – diese gesamte Gestalt sollte weiterhin schützbar sein.
Als Beispiel für gleiche Tonfolgen in gänzlich anderem Gewand hast du die drei amerikanischen Kinderlied-Klassiker, »Twinkle Twinkle Little Star«, »Ba-Ba-Black Sheep« oder dem »ABC Song« aufgegriffen: Die drei haben im Kern dieselbe Tonfolge, was aufgrund der völlig unterschiedlichen Liedgestalten nie auffiel – bis jemand auf die Theorie dahinter blickte.
Das sind gänzlich unterschiedliche Songs, die wir auch alle als solche wahrnehmen. Der Fakt, dass sie dieselbe Tonfolge als Melodie verwenden, ist eher Zufall als Absicht. Jemand hat den ersten der drei Songs komponiert, und vielleicht hat später Person B oder Person C kopiert, aber unabhängig vom Vorsatz eines späteren Songwriters. Kein Hörer denkt je darüber nach – außer, er wird darauf gestoßen. Daher sind es eigenständige Songs.
Man könnte also sagen: Wenn diejenigen das mit Absicht kopiert hätten, würde es hier in deinen Augen eher die Funktion einer Inspiration erfüllen, um etwas Neues zu kreieren?
Das ist richtig. Und wenn du darüber nachdenkst: Im Verlauf der Geschichte zitierte Haydn seine Vorgänger, Mozart tat es ebenso. Ist das, was Bach, Haydn, Mozart, Beethoven oder jeder andere gemacht haben, etwas, für das wir Geld zahlen sollen, um jemandem eine Hommage zu erbringen an die gute Arbeit, die sie früher geleistet haben – oder schlicht Teil der musikalischen Sprache? Ähnlich wie die Redefreiheit wäre das praktisch die Freiheit musikalischer Zitate, um praktisch in einen Dialog mit unseren musikalischen Vorfahren zu treten.
Ein Sample einer Aufnahme wäre in deinen Augen etwas anderes …
Richtig, weil du hier auf die Gestalt des Songs abhebst! Es geht nicht nur um die Tonhöhenänderung, sondern um die gesamte Aufnahme der ursprünglichen Musiker, die ihre Instrumente spielen. Du machst dir folglich deren Performance zu eigen, was etwas komplett anderes ist als das, was ich sage. Allein die Änderung der Tonhöhe sollte nicht kopierbar sein.
Ein rechtliches Grundproblem eures Projekts besteht darin, dass im Urheberrecht nur Melodien als schützbar erachtet werden, die von Menschen geschrieben, nicht von einer Maschine, richtig?
Das ist eine offene Frage in US-Gerichten, ob das Werk einer Maschine urheberrechtlich schützbar ist oder nicht. Aber in Großbritannien zeigt die Rechtsprechung, dass Arbeiten von Maschinen tatsächlich geschützt werden können. Als Mitglied der sogenannten Berner Übereinkunft würde hier der Aspekt greifen, dass die teilnehmenden Länder gegenseitig die jeweiligen Copyright-Regelungen anerkennen müssen [Urheberrechtsnormen sind praktisch weltweit über eine Vereinbarung geregelt: Die »Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst« von 1887 wurde bislang von 178 Ländern ratifiziert, darunter USA, Großbritannien und Deutschland; Anm.d.Autors]. Wenn also Großbritannien die Kreativität maschineller Arbeiten als schützenswert anerkennt, besteht die Frage, ob die USA das in gleichem Maße anerkennen muss, und das ist aktuell offen.
Hat sich denn bereits etwas in der Praxis verändert seit dem Beginn des Projekts?
Vor meinem TEDx-Talk haben nahezu alle Beklagten vor Gericht verloren, wegen der Gründe, die ich dort benannt habe. Seitdem haben Gerichte eine starke Richtungsänderung vorgenommen und viele meiner Argumente, dass es »nur so und so viel Noten gibt« und »nicht schützbar sein sollte«, übernommen – zum Beispiel Led Zeppelins »Stairway To Heaven«-Fall [Skidmore v. Zeppelin, 952 F.3d 1051 (9th Cir. 2020); Anm. v. D. Riehl], Katy Perrys »Dark Horse«-Fall [Gray v. Hudson, 28 F.4th 87 (9th Cir. 2022); Anm. v. D. Riehl] oder Ed Sheerans »Shape Of You«-Fall. Alle diese Fälle wurden nach meinem Talk gewonnen und haben meine Argumente übernommen – zuvor waren sie nicht erfolgreich.
Natürlich stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang: War es Zufall, oder waren die Anwälte, Richter und Gerichtsschreiber unter den über zwei Millionen Menschen, die meinen TEDx-Talk gesehen hatten? Auf jeden Fall existiert eine Korrelation.