Mischpult, Effekte, Equalizer und Dynamikprozessoren sind bereits in den Rechner gewandert; das virtuelle Studio ist Wirklichkeit geworden − bis auf eine »Kleinigkeit«, die ein Topstudio ganz wesentlich ausmacht: die Aufnahmeräume. Erstmals hat Universal Audio nun auch die virtualisiert. Und nicht irgendwelche, sondern ein paar der anerkannt besten dieses Planeten: die Ocean Way Studios, wo Legenden von Sinatra bis Radiohead ihre Klassiker schufen.
Screenshots des Ocean-Way-Plug-ins geisterten bereits seit drei Jahren durchs Internet. Manche hielten das Projekt für gestorben, andere es für einen Hoax. Nun wissen wir: Es existiert doch! Und wer sich auch nur eine halbe Stunde damit beschäftigt, mag erahnen, warum das Plug-in so lange auf sich warten ließ: Es steckt ungemein viel Arbeit drin, und es ist überaus komplex.
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Anleitung und Dokumentation zum Ocean Way Studios Plug-in nehmen nicht weniger als 30 Seiten im UAD-Manual ein. Denn es handelt sich nicht etwa um einen simplen Hall-Erzeuger mit ein paar Impulsantworten der legendären Räumlichkeiten. Die Räume wurden für verschiedene Einsatzzwecke komplex mikrofoniert − und zwar von keinem Geringeren als Allen Sides, dem Studioeigentümer, unter Zuhilfenahme seiner umfangreichen Mikrofonsammlung.
Anschließend wurden die zahllosen Aufnahmen in einem neuartigen Verfahren verwurstet, das Impulsantworten und algorithmische HallErzeugung kombiniert. Das Resultat: virtuelle Aufnahmeräume, in denen man Klangquellen platzieren und mikrofonieren kann. Oha!
California, here I come
Schauen wir uns das Plug-in mal genauer an. Die wichtigste Einstellung findet sich oben rechts: Hier wird der Modus gewählt, nämlich »Re-Mic« oder »Reverb«. Im Reverb-Mode lässt sich das Ocean Way Plug-in wie ein gewöhnliches Hall-Plug-in verwenden, d. h., man lädt es in einen Effektkanal, aktiviert »Wet Solo« und regelt den Effektanteil über die entsprechenden Sends der Einzel- und Gruppenkanäle. Alternativ kann man es natürlich auch in einen Kanal-Insert laden und den Effektanteil per Wet/Dry-Regler justieren. Im Re-Mic-Mode erzeugt das Ocean-Way-Plug-in nicht nur den Raumklang, sondern es wird auch das Direktsignal bearbeitet. Das Ausgangssignal wird virtuell neu aufgenommen − in einem der teuersten und bestklingenden Studios der westlichen Zivilisation. Dazu stehen drei exquisite Mikrofonpaare zur Verfügung, die in unterschiedlichen Abständen vor der virtuellen Schallquelle aufgebaut sind. Die gleichen Einstellungen hat übrigens auch der Reverb-Mode, nur dass eben das Direktsignal unbearbeitet bleibt, die folgende Beschreibung gilt also für beide Modi.
Hat man sich für einen Modus entschieden, wählt man zunächst das Studio aus. Ocean Way Recording Studio A (OWR A) ist das größere der beiden; hier haben Frank Sinatra und Count Basie aufgenommen, später auch Whitney Houston und John Mayer. Studio A hat einen etwas längeren, weicher ausklingenden Nachhall. Das etwas kleinere Studio B (OWR B) gilt als Bill Putnams Meisterstück in Sachen Akustikdesign. Trotz der kompakten Grundfläche von ca. 10 x 13 m klingt der Raum überraschend groß. Nach Duke Ellington und Ray Charles haben hier u. a. Radiohead und Green Day ihr Unwesen getrieben. Für Gitarrenaufnahmen ist zusätzlich ein angrenzender Raum (ca. 5,5 x 13 m) gemodelt, einschließlich der sich dort befindenden Gitarrenboxen.
Das bringt uns zu einem weiteren Punkt, durch den sich das Ocean-Way-Studios-Plugin von einem gewöhnlichen Hallprozessor unterscheidet: Es gilt nicht »one size fits all«, sondern es gibt Source-Presets für alle gängigen Instrumentengruppen, die Positionen in den jeweiligen Aufnahmeräumen entsprechen, wo diese Instrumente besonders gut zur Geltung kommen. Denn wie jeder weiß, kann ein Schlagzeug oder ein Klavier ganz unterschiedlich klingen, je nachdem wo im Raum es aufgebaut ist. Insofern ist im Plug-in auch die Expertise von Allen Sides mit eingebaut, der jahrzehntelange Erfahrung sammeln konnte, an welcher Stelle welches Instrument am besten klingt.
Auch Sides’ Lieblings-Mikrofone und Positionierungen sind im Plug-in verewigt. Für jede Source gibt es drei Mikrofonpositionen (Near, Mid, Far), mit jeweils mehreren zur Auswahl stehenden Mikrofonpaaren. Die Mikrofonsammlung von Allen Sides ist legendär; als viele Studios auf Transistortechnik umrüsteten, begann er, ausgemusterte Röhrenklassiker aufzukaufen. Um die 2.000 Mikros sollen durch seine Hände gegangen sein, von denen er nur die allerbesten behielt.
Von diesen erlesenen Klassikern stehen je Studio, Klangquelle und Mikrofondistanz immer gleich mehrere Paare zur Auswahl. Für die Nahpositionierung sind meist die AKG-Röhrenlegende C12 und sein direkter Nachfolger, das C12A, am Start, und zwar jeweils mit Nieren- oder Kugelcharakteristik. Für Gesang darf’s dann auch mal ein Neumann U47 oder U67 sein bzw. für Gitarren das unvermeidliche Shure SM57 oder ein RCA44 Bändchen. Für die Mid- und Far-Positionen ist die Auswahl noch reichhaltiger und bunter. Je nach Quelle kommen hier Neumann-Röhrenklassiker wie das M50, KM54 oder U67, Raritäten wie das RCA Bändchenmikrofon KU3A oder auch (relativ) moderne Transistormikros wie das Sennheiser MKH20 oder DPA 4006 zum Einsatz. Besonders für die Far-Position, die im Wesentlichen den Klang der Hallfahne bestimmt, ist die Auswahl mit typischerweise sieben bis acht Einträgen sehr reichhaltig.
Die drei Mikrofonpositionen lassen sich separat im Abstand variieren. Wie im echten Leben wird die Quelle lauter (und bei Nieren- bzw. Achtercharakteristik aufgrund des Nahbesprechungseffekts auch bassiger), wenn man das Mikro näher zur Quelle rückt. Seitlich verschieben lassen sich die Mikros übrigens nicht − wäre vermutlich auch nicht sinnvoll. Wie bei echten Aufnahmen kommt es abhängig vom Mikrofonabstand zu Laufzeitverzögerungen im Millisekundenbereich. Anders als in der freien Natur lassen sich diese aber mit Klick auf den Distance-Knopf und Aktivierung der Align-Funktion ausschalten. Weiterhin verfügt jeder der drei Mikrofonkanäle über Hoch- und Tiefpassfilter sowie einen Phasenumkehrschalter. Wie bei echten Mikros kommt es nämlich zu Frequenzauslöschungen (Kammfiltereffekte), wenn mehr als ein Mikrofonpaar aktiviert ist. In vielen Presets haben die Macher deshalb nur einen Mikrofonkanal aufgeschaltet.
Abschließend gibt’s einen simplen Master-EQ mit durchstimmbaren High- und Low-Shelf-Filtern sowie Standardfunktionen wie Bypass, Mono und L/R-Swap (Kanaltausch). Vor allem für den Reverb-Mode nützlich ist ein einstell bares Pre-Delay (0 − 125 ms), um den Hall vom Direktsignal stärker abzusetzen.
Praxis
UAD Ocean Way Studios ist ein recht leistungshungriges Plug-in; rund 38% eines DSP-Chips belegt eine Instanz − ob mono oder stereo, spielt keine Rolle. Entsprechend ließen sich auf meiner UAD-2 Quad maximal acht Instanzen öffnen; damit war die Karte zu 77 % ausgelastet. Rein rechnerisch bliebe zwar noch Rechenschmalz für zwei Instanzen übrig, aber eben verteilt auf vier Chips, und ein UAD-Plugin kann nicht auf mehrere DSPs verteilt berechnet werden. Die restliche Prozessorleistung kann also nur von »kleineren« UAD-Plug-ins genutzt werden.
UAD Ocean Way Studios ist eine riesige Spielwiese. Wie viel Sound in diesem Plug-in steckt, sieht man dem GUI auf den ersten Blick kaum an, aber man kann Tage und Wochen damit verbringen, die Möglichkeiten auszuloten. Der Reverb-Modus ist ein leichter Einstieg und die DSP-schonendere Variante, da man ja eine Menge Signale mit nur einer Instanz verhallen kann. Die Source-Einstellungen und Mikrofonpositionierung mutieren hier zur Bedien-Metapher für ein sehr realistisch klingendes Hallgerät.
Richtig zur Sache geht’s im Re-Mic-Modus. Hier lauert noch einmal ein deutlicher Schub in Sachen Realismus: Es ist frappierend, wie selbst recht statische Samples an Leben gewinnen, wenn sie virtuelle Westküstenluft schnuppern. Die Möglichkeiten sind umfassend und von höchster Qualität. Jedes Mikrofonmodell, jede Richtcharakteristik, jede Positionierung wirkt realistisch, und es gibt so gut wie keine schlecht klingenden Einstellungen.
Fast wie im richtigen Leben findet man allmählich seine Lieblingspositionen und fängt an, bestimmte Mikrofonmodelle für bestimmte Anwendungen zu bevorzugen. So lernt man beispielsweise, warum diese ominösen Neumann M50-Röhren-Wuchtbrummen (mit Kleinmembran-Omni-Kapseln in einer Acryl-Kugel eingelassen) nach wie vor so hoch geschätzt sind: Sie klingen einfach fantastisch, insbesondere bei weiten Mikrofonabständen. Auch die Richtcharakteristiken sind realistisch eingefangen. Kugelmikros liefern an gleicher Position einen höheren Raumanteil als Nierenmikros, die bei naher Positionierung wie im wahren Leben einen Nahbesprechungseffekt aufweisen.
Das einzige, was nicht gemodelt wurde, ist das Mikrofonrauschen. In der UAD-Welt keineswegs eine Selbstverständlichkeit, denn bei den Bandmaschinen und Vintage-Hallgeräten hat Universal Audio selbst diese Artefakte emuliert. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass man diesmal drauf verzichtet hat. Wie oft habe ich vergessen, das Vintage-Gedenk-Rauschen zu deaktivieren, sodass ich den fertigen Mix nochmal neu ausspielen musste!
Möglichkeiten und Grenzen
Die Grenzen der UAD-Re-Mic-Technik liegen vor allem im Ausgangsmaterial. Arbeitet man mit Samples, muss man sich darüber im Klaren sein, dass diese Klänge ja schon einmal mikrofoniert wurden. Der im Sample enthaltene Raumklang und die Klangfärbung des Mikrofons bzw. sein Transientenverhalten kann das Ocean-Way-Plug-in nicht wegrechnen, sondern nur mit seiner hochwertigen Studioakustik überlagern. Die Klangergebnisse sind deshalb umso realistischer, je trockener das Ausgangsmaterial ist. In dieser Hinsicht vorbildlich sind z. B. die Samples der Vienna Symphonic Library. Generell empfiehlt es sich, die in den meisten SamplePlayern enthaltenen Hall-Effekte komplett auszuschalten.
Ähnliches gilt für eigene Mikrofonaufnahmen. Man darf nicht erwarten, dass eine Gesangsaufnahme mit einem 100-Euro-Billigmikro − vielleicht auch noch in einem Raum mit störenden Resonanzen − plötzlich zur audiophilen Meisterleistung mutiert, wenn man sie durch das Ocean-Way-Plug-in jagt und dort ein U47 in einem Weltklasse-Aufnahmeraum emuliert.
Hoch interessant ist der Re-Mic-Modus nicht zuletzt auch für Synthesizer-Sounds. Gerade Softsynths gewinnen unglaublich an Dimensionalität, wenn sie aus dem virtuellen Aufnahmeraum erklingen. Das Ergebnis unterscheidet sich deutlich vom üblichen Weichspülen mit Hallgeräten. Der Sound wird nicht einfach nur fluffiger, er wirkt echter, man erhält den Eindruck eines richtigen Instruments − selbst wenn es sich um einen Klang handelt, der mit einem Naturinstrument nichts zu tun hat. Wenn ein Klang den Eindruck vermittelt, er sei in einem echten Raum mikrofoniert worden, dann geht unser Ohr offenbar davon aus, dass es dieses Instrument tatsächlich geben muss.
Die Sounds müssen dazu keineswegs im Nachhall ertrinken; auch die virtuelle Nahpositionierung wirkt realistisch. Interessant − nicht nur für E-Gitarren − sind auch die gemodelten Verstärkerboxen (Vox, Marshall und Open Back [=Fender Combo]). In erster Linie bieten sie sich als Alternative für die Cabinets in Guitar Rig & Co an, daneben machen sie auch eine gute Figur für Effektsounds (z. B. Stimmverfremdung) oder Moog-Leads. Leider ist die Latenz des Ocean-Way-Plug-ins zu hoch, als dass man es beim Einspielen einsetzen möchte. Das gilt leider auch fürs ApolloInterface: Dort kann man es zwar als SendEffekt im Reverb-Mode verwenden, im Re-Mic-Modus als Channel-Insert ist die Plug-in-Latenz von 192 Samples (4,3 ms bei 44,1 kHz) jedoch störend.
Fazit
Da hat Universal Audio mal wieder einen Coup gelandet! Ocean Way Studios für die UAD-2-Plattform stößt eine ganz neue Tür auf. Und nicht irgendeine, sondern die eines der Aufnahmetempel Amerikas. Mit 349 Dollar ist das Plug-in nicht ganz billig, dem gegenüber steht aber eine wahre Materialschlacht mit Mikrofonen im Wert eines Eigenheims in legendären Studioräumen, wo das Who’s Who der Swing/Pop/Rock-Musik sich die Klinke in die Hand drückte. Es wäre vermessen zu behaupten, ein Plug-in könnte all dies 1:1 ersetzen, aber mit den gebotenen Möglichkeiten kommt man dem Klang der Legenden doch ein großes Stück näher.
Wie viel vom legendären Ocean-Way-Klang im Plug-in steckt, das weiß wohl nur Allen Sides. Der wirkte im Werbevideo sehr zufrieden mit dem Erreichten − was kaum erwähnenswert wäre, hätte er nicht vor Kurzem sein Studio verkauft.