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Vor einem Jahr starb einer der ganz großen Jazz-Pianisten und Keyboarder Armando Anthony »Chick« Corea im Alter von 79 Jahren. Neben seinen Tasten-Kollegen Herbie Hancock und Joe Zawinul gehörte Chick zu den drei großen Wegbereitern des Fusion bzw. Jazzrocks. In diese Kategorie gehören auch der Gitarrist John McLaughlin und der Drummer Tony Williams, die übrigens alle vorher in den Bands des legendären Trompeters Miles Davis spielten.
Chick wurde 1941 in Chelsea im US-Bundesstaat Massachusetts geboren und entstammt einer musikalischen Familie, deren Vorfahren aus Spanien und Italien kamen. Er bekam schon mit 4 Jahren Klavierunterricht und spielte auch Schlagzeug – sicher ist das auch einer der Gründe, warum Chick so unfassbar präzise selbst komplexe Polyrhythmik scheinbar aus dem Ärmel schüttelte.
Er begann seine Karriere bei Cab Calloway, Mongo Santamaria und Willie Bobo. 1966 veröffentlichte er sein erstes Soloalbum Tones For Joan’s Bones. Nach der Episode bei Miles Davis (1968–1970) und einer kurzen Trio-Phase gründete er 1971 zusammen mit dem Bassisten Stanley Clarke die Gruppe Return To Forever, die einen bahnbrechenden Crossover zwischen Jazz und Rock präsentierte. Ihr zweites Studioalbum Light as a Feather enthält eine der berühmtesten Kompositionen von Chick Corea: Spain. Seine Liebe zur lateinamerikanischen und Flamenco-Musik dokumentierte er u. a. in dem Album My Spanish Heart.
Sein Schaffen ist vielfältig: 1996 spielte er Klavierkonzerte von Mozart mit dem Saint Paul Chamber Orchestra unter der Leitung von Bobby McFerrin ein. Auch auf einer seiner letzten Trio-Aufnahmen 2018 spielt und interpretiert er eine Sonate von Scarlatti – da war er 77 Jahre alt und wie immer hellwach und voller intelligentem Spielwitz und souveräner Virtuosität.
Als letzte Veröffentlichung erschien 2020 die Solo-CD Chick Corea Plays, eine Zusammenstellung von 33 Klavier-Live-Einspielungen aus dem Jahr 2018. Der letzte seiner 25 Grammy Awards wurde Chick 2021 für das Album Trilogy2 verliehen – auch 1976 erhielt er die begehrte Auszeichnung für das Album No Mystery mit Return To Forever. Auf dem gleichnamigen Song No Mystery spielten neben ihm und Stanley Clarke der Gitarrist Al Di Meola und Lenny White (Drums, Xylofon, Marimbafon).
No Mystery ist ein eindrucksvolles Beispiel an Virtuosität, variabler Instrumentierung, Dynamik, Rhythmik und Stilvielfalt. Wie schon in Spain kommen auch hier rhythmisch anspruchsvolle Unisonoläufe zum Einsatz. Gleich zu Beginn gibt es ein virtuoses Statement, wobei die notierte Linie zwei Oktaven tiefer zu einer Unisono-Phrase gedoppelt wird, wie auch in den entsprechenden Abschnitten Interlude 1, Interlude 2, und Outro.
Wie kommt man auf diese vertrackten Rhythmen? Im Interlude 1 (ab Takt 14) habe ich zunächst die konventionelle Aufteilung in 4/4 und einmal 5/4 gewählt, weil noch ein Viertel mehr zu integrieren war. Die akzentuierten Töne zeigen die Schwerpunkte der Phrasierung, die gegen den Takt laufen. Wenn man weiß, dass Chick gerne auch »krumme« Rhythmen gespielt hat, dann könnte die Rhythmik aus dem Notenbeispiel die Grundlage gewesen sein. Durch diese geänderten Taktangaben gibt es drei gleiche Rhythmus-Motive, wobei der zweite Takt um eine Achtel gegenüber Takt 1 und 3 gekürzt ist, so wird das Motiv nicht zu gleichförmig. Das gleiche Phänomen gibt es auch im Interlude 2, hier habe ich kleine Taktangaben unter die Notenzeile gesetzt, um diese alternative Taktgruppierung zu zeigen. Vielleicht hilft diese andere Sichtweise beim Erfassen der Rhythmik. Übrigens: Die Tempoangabe von 140 dient als Grundorientierung, denn das Tempo variiert im Song und zieht des Öfteren merklich an.
Das Melodie-Thema in A1 wird in der Wiederholung variiert, in Takt 7 und 8 klingt z. B. die »1u« nun auf der »1«. Den Bass in Takt 10 bis 14 habe ich etwas modifiziert. Harmonisch auffällig ist der A7-Akkord in Takt 9, der eine andere Struktur als die vierstimmigen Basis-Akkorde aufweist – mehr davon gibt’s im C-Part. Nicht ganz klar ist ein Akkord in Takt 11: Notiert habe ich ein Ebj7, wie es eigentlich in allen Versionen gespielt wird – in dieser ursprünglichen Fassung höre ich ein allerdings Ej7, deswegen habe ich das Akkordsymbol in Klammern daruntergesetzt.
Im B-Abschnitt öffnet sich eine andere Welt: Die Fusion-Akkorde enthalten zumeist keine Terz und klingen sehr offen – sie werden durch eine viertaktige Akkordbrechung mit aufsteigender Basslinie angesteuert.
Der C-Part ist die eigentliche Antwort bzw. Weiterführung des A-Motivs und basiert auf sehr jazzigen Akkorden mit allerhand Optionen und Alterationen. Die kleinen Buchstaben unter der unteren Notenzeile zeigen die Kontrabasstöne an. Ab Takt 44 löst sich Chick harmonisch von den zweitaktigen Vamps und entwickelt das Thema weiter. Die kleinen Noten (wie z. B. in Takt 36 auf der »3u«) sind bloße Zwischenschläge und können weggelassen oder variiert werden.
Die B-Teil Bridge greift die Idee des B-Parts auf, ihre eigentliche Aufgabe ist aber die Hinführung zum D-Part. Hier betreten wir die vierte akustische Welt des Songs, bei der die Gitarre mit Akkordbrechungen die Basis legt und der Kontrabass als Streichinstrument die Melodie übernimmt, die eine oder zwei Oktaven tiefer klingt als notiert. Diese habe ich ein wenig »begradigt«. In Takt 86 spielt Stanley das f# auf der 3, ich würde ggf. diesen Ton dem Motiv folgend auf die »2u« vorziehen – siehe die x-Notenköpfe. Der Cj7 Akkord in Takt 85 ist ein wenig komplexer, Chick spielt im Comping die Töne: c-g#-e-f#-h (von unten nach oben). Wenn No Mystery als Solo-Piano-Stück erklingt, sollte diese Linie ggf. mit Oktaven oder weiteren Akkordtönen etwas angedickt werden. Auch eine eigene variierte Linie ist denkbar, und die reine Akkordbrechung der Gitarre klingt ebenfalls passabel.
Der B-Solo-Abschnitt wird neun Mal gespielt: Zunächst klingen nur die Akkorde, dann kommt das Melodie-Thema dazu (gespielt von der Gitarre) und Chick legt noch einmal Sexten darüber (oberes Notensystem). Der weitere Ablauf wird über dem Part im Notentext angegeben.
Der B2-Part featured noch mal das zweite Thema des Songs. Das Outro-Solo präsentiert sich etwas kurios, denn das Piano-Solo beginnt eigentlich schon auf der »4« des Vortaktes, dann folgen für jeweils ca. einen Takt Bass und Gitarre, bevor eine Unisono-Phrase den viertaktigen Abschnitt beschließt. Allerdings halten sich die Solisten nur annähernd an die Takteinteilung, und an einer Stelle sind sie sich nicht ganz einig, wann die Unisono-Phrase kommt. Der Part basiert harmonisch auf A-Dur mit mixolydischem Tonmaterial, Chick spielt hier viele eher rockige Licks. Das Outro-Unisono beschließt den Song, die abschließenden 16tel-Läufe bestreitet Chick Corea alleine.
Abschließend noch ein kurzer Hinweis zu den Akkordsymbolen: B9(4) = B9sus4 bedeutet: keine Terz – obwohl der kurze Vorschlag in Takt 23 eine Mollterz andeutet, und A9sus4 = G/A und E9sus4 = D/E. Danke, Chick, für die Musik! Sie war und ist ein Teil meines Lebens.
Die Transkription findest du in der Sound&Recording-Ausgabe 1/2022. Hier versandkostenfrei bestellen oder als PDF kostengünstig herunterladen.