Wechselnde Aufnahmesituationen erfordern klanglich flexible Mikrofone. Das war schon den Altvorderen von Western Electric in den späten 30ern des letzten Jahrhunderts nicht entgangen. Während in Deutschland neben dynamischen Mikrofonen bereits Kondensatormikrofone zum Einsatz kamen, hatten sich in Amerika zu dieser Zeit lediglich dynamische Wandlersysteme etabliert. Zum einen das Tauchspulensystem, das in Amerika als “moving coil“ bezeichnet wird, zum anderen das Bändchensystem, engl. “ribbon“.
Die überwiegende Verbreitung dynamischer Mikrofone im professionellen Sektor blieb auf dem amerikanischen Kontinent bis in die späten Fünfziger bestehen. Während sich das eine Mikrofonsystem eher für impulsträge oder impulsüberbetonte Signale eignete, war das andere schnell und präzise bei tieffrequenteren und druckbetonten Signalen. Zudem hatten die verschiedenen Richtcharakteristiken der Systeme je nach Aufnahmesituation Vor- und Nachteile.
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Die Tauchspulmikrofone jener Zeit waren ausschließlich Druckempfänger, also Kugeln. Aufgrund des hohen Raumanteils erschienen die Klangergebnisse häufig zu indirekt. Zwar war die Bändchen-Acht stärker gerichtet, doch konnte der gegenphasig aufgenommene Schall aus dem Rückraum zu Problemen führen. Durch punktförmige Überlagerung beider Systeme ließe sich jedoch eine neue, nach vorne gerichtete Charakteristik erzeugen: die Niere. Die logische Konsequenz: Ein neues Mikrofon musste her, das die Vorteile beider Systeme sowie deren Kombination bietet.
Neue Mikros für das Volk
Bei der Entwicklung des 639A wurden ein Tauchspul- und ein Bändchensystem phasengleich übereinander montiert. Je nach Aufnahmewinkel konnte man dann mittels eines Schalters am Mikrofon zwischen Ribbon (Bändchen, Acht) Combined (Kombiniert, Niere) und Dynamic (Tauchspule, Kugel) anwählen. Ein Mikrofon, das jeder Aufnahmesituation gewachsen sein sollte. Das Nachfolgemodell 639B verfügte darüber hinaus noch über drei weitere Kombinationsmodi, die zusätzlich noch drei unterschiedlich gerichtete Hypernieren zur Auswahl boten, war aber ansonsten optisch und vom Aufbau her identisch. Da der grundsätzliche Aufbau von Lautsprechern und Tauchspulenmikrofonen gleich ist, entstammte die Membran im Fall des 639 einem bereits in Serie gefertigtem Hochtöner eines Western Electric Lautsprechers. So brauchte man für das Tauchspulenelement auch kein neues Bauteil fertigen, was mit zusätzlichen Produktionskosten verbunden gewesen wäre.
Beim Bändchen wurde es schwieriger. Man musste einen großen Magneten haben, um genug Output zu erzeugen, aber die geraden, langen Bauformen der Zeit waren aufgrund der Größe schlicht nicht umsetzbar, zumal das Tauchspulenelement noch in dem Mikrofon Platz finden musste. Wegen des geringen Abstands beider Systeme musste man die ungünstige magnetische Wirkung auf das jeweils andere System beachten. Diesen Umständen verdankten die beiden Magnete Ihre eigenwillige U-Bauform. Um nun beide Systeme koppeln zu können, wird durch ein geschicktes Übertragersystem die nötige Angleichung und Vordämpfung erzeugt. Der Output des Mikrofons wird dadurch leider etwas niedriger, aber die Röhrenvorverstärker der Zeit verfügten über mehr als genug Hub. Nun musste noch ein Gehäuse geschaffen werden.
Und da begann das Unheil …
Der Korb wurde auch unter Berücksichtigung des Klangeinflusses sehr ausladend und doch filigran designt. Seine Größe und Form brachte ihm später dennoch den Spottnamen “Birdcage“ (Vogelkäfig) ein. Die Umsetzung des Entwurfs war schnell gefunden. Im Graugussverfahren konnte diese Form kostengünstig hergestellt werden.
Der dreiteilige Korb war jedoch so zerbrechlich, dass schon bei geringsten Belastungen ein paar Rippen brachen. Da ihn nur zwei lange Schauben zusammenhielten, wurde der Korb bzw. die Innenkonstruktion sofort instabil. Kaum ein 639 hat deshalb die Reise in die heutige Zeit unbeschadet überlebt. Geklebte und geflickte Mikrofone wo man hinsieht. Das Problem war auch früher schon bekannt. So nutzten schon damals europäische Rundfunkstationen nur das Innenleben des Mikrofons und fertigten ein eigenes, robustes Gehäuse.
Die zugehörige Stativgelenkmontage, die sogenannte Yokemount, ist rar und begehrt. Dabei hat sie viele 639 das Leben gekostet. Nicht nur dass es viel Geschick braucht, die Yoke am Mikrofon anzubringen, ohne es zu beschädigen; auch richtig angebracht, trägt sie das schwere Mikrofon eher schlecht als recht, denn die Yoke wird lediglich an zwei der zerbrechlichen Rippen des Mittelkorbes angeklemmt. Die Yoke war kein Standardzubehör, da viele 639 nicht auf großen Stativen sondern auf Tischstandfüßen von Sprechertischen zum Einsatz kamen. Auch hier genügte eine unbedachte Bewegung, denn schon der Fall aus 30 cm vom Tischstativ führte zu Beschädigungen.
Die Qualitätskontrolle
Mir wurde von einem befreundeten Mikrofonspezialisten berichtet, dass er wiederum einen ehemaligen Werksmitarbeiter kenne, der im Besitz eines 639 sei. Mir drängte sich die Frage auf was daran den so besonders wäre. Und die Antwort war erstaunlich. Es handelte sich nicht um ein Altec 639 A oder 639 B sondern um das werkseigene Referenzmikrofon des Typen 639, auf das im Werk alle anderen Mikrofone angeglichen wurden. Der Abgleich erfolgte nebst Messung selbstverständlich auch durch Hören. Ich hatte die Möglichkeit mehrere gut erhaltene Exemplare zu vergleichen und musste feststellen, dass die Abweichungen auch heute noch erstaunlich gering sind.
Trotz guter Umsatzzahlen verkaufte Western Electric 10 Jahre nach der Markteinführung des 639 aufgrund einer Umstrukturierung die Mikrofonsparte 1948 an den Konkurrenten Altec, die mit dem schlanken Kondensatormikrofon M21 “Cokebottle“ ihrer Zeit schon voraus waren. Das Mikrofon wurde unter der neuen Brand Altec dann noch einige Zeit weiterproduziert, bevor es aufgrund schlechter Verkaufszahlen endgültig vom Markt genommen wurde.
Praxis
Zunächst ist die Wahl des richtigen Vorverstärkers essentiell. Ob Röhre oder Transistor, genug Hub muss her, und genau so wichtig, die richtige Eingangsimpedanz von 1 bis 2 Kiloohm. Wer bei alten Amerikanern den Sound bemängelt, hat oft nur den falschen Verstärker. Wenn man das beachtet, ist das Mikrofon auch in der heutigen Musikproduktion ein echter Zugewinn für Sprache und Gesang, Saiteninstrumente, Verstärkerabnahme, Overheads und mehr. Dabei lässt der druckvolle und detailreiche Klang das Alter des Mikrofons nicht erahnen. Wer also genug vom Höhenwahn der Zeit hat, findet hier eine echte Alternative um sich klanglich von der breiten Masse abzusetzen. Wer aber den absolut authentischen Sound sucht, wird auf die passende amerikanische Peripherie der vierziger und fünfziger Jahre zurückgreifen müssen. Und auf Bandmaschinen und Plattenschneider. Aber wer macht so etwas heutzutage noch?
>> Recording-Kult und Prince Special <<
Für das Thema Recording-Kult haben wir Studio-Legende Al Schmitt getroffen und waren in denAbbey Road Studios, um uns ein paar edle Teile des dortigen Mikrofonparks anzuschauen. Engineers aus deutschen Studios zeigen, wie man heute mit echtem Vintage-Gear aufnimmt! In unserem Prince-Special widmen wir unsdem Sound, der Musik und der Person Prince,derdie Musikwelt weit über Minneapolis hinaus geprägt hat!
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