1176-Clones gibt es zur Genüge, doch Black Lion Audio haben nicht irgendeinen Urei 1176 nachgebaut, sondern einen ganz besonderen, den »heiligen« Bluestripe, mit dem der legendäre Mix-Engineer Chris Lord-Alge die Lead-Vocals seiner Star-Klientel veredelt. Chris Lord Alge ist nämlich überzeugt, dass dieses Exemplar anders klingt als seine übrigen 1176er, von denen er einen ganzen Stapel besitzt. Also hat er den Telefonhörer in die Hand genommen und Jesus angerufen.
Die Rede ist von Jesus Ortiz, dem Chefdesigner von Black Lion Audio, einer Boutique-Audio-Manufaktur aus Chicago. Black Lion Audio (BLA) war ursprünglich kein Hersteller, sondern eine Werkstatt, die Modifikationen anbot, welche preisgünstige Geräte zu »teurem« Sound verhelfen sollten. Das lief so erfolgreich, dass BLA dazu überging, eigene Geräte zu entwickeln, die bereits von Haus aus hochklassigen Sound zu bezahlbaren Preisen bieten.
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Das Angebot, sich Chris Lord-Alges auserwählten Vocal-Compressor anzuschauen, konnte Jesus Ortiz sich natürlich nicht entgehen lassen. In Los Angeles angekommen, stellte er fest, dass dieser 1176 tatsächlich anders klang, und ging der Sache auf den Grund. Der besagte 1176 ist ein frühes Bluestripe-Modell, den Chris Lord-Alge daher »Bluey« nennt. Im Verlauf seines langen Arbeitslebens musste Bluey immer mal wieder von Servicetechnikern verarztet werden, und, wie Jesus Ortiz bei genauerer Inspektion feststellte, dabei wurden nicht immer die originalen Bauteile bzw. Bauteilwerte verwendet, sondern das, was gerade da war oder sich ohne längere Suche beschaffen ließ. Diese kumulativen Bauteiländerungen resultierten in einer schleichenden Modifikation, die ihn zu Chris Lord-Alges Lieblingskompressor für Lead-Vocals werden ließen. So eingesetzt auf Tausenden von Aufnahmen!
Hardware
Die Hardware von Black Lions Nachbau des ominösen Bluey ist ein schwerer Brocken. Das Gerät kommt in einem äußerst robusten 19-Zoll-Gehäuse mit zwei Höheneinheiten und wiegt trotz seiner geringen Bautiefe von 153 mm (ohne Knöpfe) knapp 8 kg! Die Front ist dem Original von Urei/Universal Audio nachempfunden, mitsamt des blauen Streifens jener frühen 1176-Revisionen. Das Bedienfeld ist weitgehend unverändert. Einen Threshold-Regler hat ein 1176 nicht; stattdessen führt man das Eingangssignal mit dem Input-Regler an den fixen Threshold; am Output-Regler gleicht man den Pegel aus. Die Attack- und Release-Regler arbeiten wie beim Original invers: Die kürzesten Regelzeiten sind am Rechtsanschlag. Die Verwendung eines Feldeffekttransistors (FET) als Regelelement ermöglicht extrem schnelle Attack- und Release-Zeiten. Laut Manual sind diese für den Bluey identisch mit denen des Urei-Originals, nämlich Attack von 20 bis 800 Microsekunden (nicht Millisekunden!) und Release von 50 bis 1.200 Millisekunden. Das Kompressionsverhältnis wird über vier Druckschalter gewählt: 4:1, 8:1, 12:1 und 20:1. Drückt man alle Buttons gleichzeitig, entsteht eine charakteristische Effektkompression mit extrem hoher Ratio und Zerr-Artefakten. Dieser All-Buttons-Mode ist eigentlich eine Fehlfunktion, die so nie geplant war, aber viele Toningenieure haben Gefallen daran gefunden.
Die Kompressoraktivität wird über ein großes, beleuchtetes Zeigerinstrument angezeigt; alternativ lässt sich dieses auch als Pegelanzeige nutzen. Einen Bypass-Schalter hat der Bluey leider genauso wenig wie ein originaler 1176. Die einzige Erweiterung des Bedienkonzepts ist ein Dry/Wet-Regler (»Comp Mix«) für Parallelkompression. Abweichend vom Urei-Original sind alle Potis gerastert; Input, Output und Comp Mix in feinen Stufen, Attack und Release in nur elf Positionen.
Innenansichten
Der Bluey basiert, wie angesprochen, auf einer der frühen 1176-Versionen; anhand der Transistorbestückung würde ich von Revision B ausgehen. Auf einem Foto auf der Herstellerwebsite sieht der innere Aufbau sehr vintage aus. Dabei scheint es sich aber um einen Prototyp zu handeln, denn die Transistoren sind gesockelt, und der Eingangstrafo ist überhaupt nicht befestigt. Das Testgerät sieht innen weitaus moderner aus. Dennoch ist die Verarbeitung äußerst hochwertig. Das interne Netzteil wird von einem großen, schweren Ringkerntrafo gespeist. Ringkerntrafos haben ein geringeres elektromagnetisches Streufeld als gewöhnliche Trafos. Das ist wichtig, denn der Bluey ist mit Ein- und Ausgangsübertragern ausgestattet, die für solche elektromagnetischen Störungen anfällig sind. Der Eingangsübertrager ist deshalb zusätzlich in einer Abschirmdose geschützt; beim Ausgangsübertrager ist das nicht unbedingt erforderlich, weil hier das Nutzsignal typischerweise hohen Pegel hat. Der Eingangsübertrager stammt vom kalifornischen Traditionshersteller Cinemag; der Ausgangsübertrager wird laut Aufdruck speziell für Black Lion Audio gefertigt, trägt aber kein Herstellerlogo.
Im Unterschied zu dem auf der Herstellerseite abgebildeten Gerät sind im Testgerät drei IC-Opamps vom Typ NE5532 verbaut; ansonsten ist der Signalweg weiterhin diskret, d. h. mit einzelnen Transistoren aufgebaut. Wie es aussieht, hat Black Lion Audio die elektronischen Buffer der Send- und Return-Wege von Chris Lord-Alges SSL-Konsole nachgebildet.
Deren Schaltungen sind nämlich mit Opamps dieses Typs aufgebaut. Der Bluey soll ja direkt in die DAW eingebunden einen Sound erzielen wie der originale Bluey in Chris Lord Alges Studioumgebung.
Bild: Dr. Andreas Hau
Der innere Aufbau ist hochwertig. Bei genauerer
Betrachtung findet man drei IC-Opamps,
welche die Buffer-Amps der Inserts von Chris
Lord Alges SSL-Mischpult nachbilden.
Bild: Dr. Andreas Hau
Der Ausgangsübertrager wird eigens für den Bluey angefertigt.
Bild: Dr. Andreas Hau
Der Eingangsübertrager stammt von der kalifornischen Firma Cinemag.
Praxis
In der Praxis zeigt sich der Bluey flott und agil wie ein guter 1176, hat tatsächlich aber einen eigenen Charakter, der perfekt auf die menschliche Stimme abgestimmt scheint, obwohl die Modifikation ja durch Zufall entstand. Der Bluey hebt die für die menschliche Stimme wichtigen Mittenfrequenzen auf subtile Weise hervor. Schon beim ersten Antesten bin ich verblüfft, wie die Lead-Vocals sofort einen Schritt nach vorne machen. Ein 1176 ist von Haus aus schon ein großartiger Vocal-Compressor, aber der Bluey setzt noch einen drauf. Die Stimme setzt sich sofort durch, gewinnt an Souveränität; sie wirkt lauter, ohne mehr Pegel zu beanspruchen, und die Sprachverständlichkeit verbessert sich, ohne dass die Konsonanten scharf wirken. Mit einem originalen Urei 1176 konnte ich leider nicht vergleichen, wohl aber mit einem Warm Audio WA76. Auch der macht sich sehr gut auf Vocals, aber der Bluey hat eindeutig die Nase vorn. Im doppelten Wortsinn: Der Sänger wirkt näher. Zudem ist der Bluey für einen FET-Kompressor sehr rauscharm. Gegenüber dem WA76 rauscht der Bluey bei vergleichbaren Einstellungen etwa 4 dB weniger. Mit ein Grund dürften die oben angesprochenen Send/Return-Buffers-Schaltungen sein, die den Arbeitspunkt in einen günstigen Bereich verschieben. Trotzdem hätte ich es gut gefunden, wenn man die Buffer wahlweise umgehen könnte, quasi als »Classic Mode«.
Natürlich kann man den Bluey auch für andere Signale als Vocals verwenden. Ein typisches Einsatzgebiet wäre die Snare, und auch hier macht der Bluey eine sehr gute Figur. Mit Attack und Release lassen sich Punch und Teppich nach Wunsch herausarbeiten. Auch an der Snare klingt der Bluey etwas mittiger als der WA76, wobei ich hier aber keinen klaren Favoriten habe. Beide klingen auf unterschiedliche Weise super. Ähnliches gilt für Hand-Percussion wie Congas, Bongos etc.
Äußerst beliebt ist der 1176 seit jeher auf Raummikrofonen. Mit den extrem schnellen Regelzeiten kann man Räume ordentlich knallen lassen. Meist wählt man dafür ein hohes Kompressionsverhältnis oder ar den berüchtigten All-Buttons-Mode. Der Bluey t hier den großen Vorteil eines Dry/Wet-Reglers, sodass man das heftig komprimierte Signal mit dem unkomprimierten Signal direkt am Gerät mischen kann. Das erspart einiges an Routing. Ansonsten hilftder Comp-Mix-Regler auch darüber hinweg, dass der Bluey wie ein originaler 1176 keinen Bypass-Schalter hat. Beim Bluey kann man zum Vergleichen den Dry/Wet-Regler auf Linksanschlag drehen. Es gibt Menschen, die einen 1176 auch für E-Bass verwenden. Ich nicht. Für Bass-Signale bevorzuge ich einen Kompressor mit langsameren Regelzeiten, vorzugsweise mit Opto-Regelelement. Für einen 1176-Style-Kompressor macht sich der Bluey aber recht gut am Bass. Er scheint weniger nervös zu regeln, und die leichte Mittenbetonung sorgt für eine knurrige Klangcharakteristik, mit der sich der Bass im Mix gut behaupten kann.
Fazit
Der Bluey ist ein ausgezeichnet verarbeiteter 1176-Style-Kompressor mit dem gewissen Extra. Auf Vocals ist seine leicht mittenbetonte Charakteristikeine Macht. Er rückt den Lead-Vocal im Mix nach vorne und verleiht ihm auf ganz unangestrengte Weise enorme Durchsetzungskraft. FET-Kompressoren im 1176-Stil sind generell großartig für Vocals, aber der Bluey macht das überragend. Ich persönlich würde ihn fest mit dem Lead-Vocal-Bus verdrahten.Aber natürlich kann man mit dem Bluey auch andere Signale wie Snare, Percussion u.v.m. bearbeiten, denn er klingt wirklich klasse und ist zudem rauschärmer als die meisten FET-Kompressoren.
Der Bluey ist sehr gut verarbeitet. Wie es sich für ein hochwertiges Studiogerät gehört, hat er ein internes Netzteil, und sein Gehäuse ist äußerst robust. Auch Sachen Haptik und Optik ist er preisgünstigeren 1176-Clones deutlich überlegen. Das lässt den aktuellen Straßenpreis von knapp 1.000 Euro absolut gerechtfertigt erscheinen. Dazu kommt, dass es sich eben nicht um einen gewöhnlichen 1176-Clone handelt, sondern um einen gewissenhaften Nachbau von Chris Lord-Alges heißgeliebtem Vocal-Compressor. Der Auserwählte mit dem ganz besonderen Mojo!
Unsere Meinung:
+++ 1176-Style Compressor mit dem besonderen Mojo
+++ ausgezeichnete Verarbeitungsqualität
++ recht rauscharm für einen FET-Kompressor
++ Mix-Regler für Parallelkompression