von Axel Latta; Jörg Sunderkötter, Artikel aus dem Archiv
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Arrangement vs. Loop
Auf dem Weg vom MIDI-Sequenzer zum virtuellen Studio im Rechner kamen die großen Innovationen aus deutschen Softwarehäusern — allen voran Steinberg, die mit Cubase VST den Meilenstein der modernen Musikproduktion schufen. Diesem Vorbild folgten etliche Varianten, bis im Jahre 2001 der nächste Game-Changer an den Start ging: Ableton Live!
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Unser erster Teil über die Geschichte der DAW (S&R 11.2015) zeigte die Entwicklung vom einfachen MIDI-Sequenzer zum virtuellen Studio. Steinberg sorgte hier mit Cubase VST für einen gewaltigen Innovationsschub: Allein die Möglichkeit, MIDI- und Audio- Spuren völlig gleichberechtigt im Arrangement-Fenster aufzunehmen und frei zu positionieren, änderte den Workflow dramatisch. Allerdings war VST weit mehr! Auch wenn man in den ersten Jahren noch weit von den Möglichkeiten heutiger DAWs entfernt war − im Prinzip nahm Cubase VST alles das bereits vorweg und integrierte den gesamten Komplex »Musikstudio«: von der Aufnahme über das Editieren bis zum virtuellen Mischpult. Ebenso war die Audiobearbeitung durch VST-Plug-ins und sogar die Integration von Software-Instrumenten vorgesehen, die sich in ein VST-Rack laden ließen. Angesichts der zumeist Browser-orientierten Sequenzer von heute wirkt das schon etwas nostalgisch.
Musikproduktion für alle
Die Software-Sequenzer entwickelten sich zu dieser Zeit in enormem Tempo. Die Computer boten immer mehr Leistung, die wiederum immer wieder neue Funktionen ermöglichte. So entwickelten sich auch die Software-Instrumente und Effekt-Plug-ins schnell weiter, und alle waren glücklich. Wie lässt sich also der Erfolg von Ableton Live erklären, dessen Version 1.0 um die Jahrtausendwende eine große Welle machte? Es gibt mehrere Gründe dafür …
Ableton Live machte das Musikmachen mit dem Computer für die unterschiedlichsten Musiker (und Nicht-Musiker) weitaus zugänglicher, als es bis dato die bekannten Sequenzer-Konzepte konnten. Ableton Live macht auch heute noch den Unterschied und sollte damals in genau diesem Punkt einen riesigen Schritt machen − einfaches und intuitives Arbeiten mit Samples!
Damals nämlich orientierte sich der Workflow aller Sequenzer weitgehend an jenem eines klassischen Musikstudios: lineares Recording im Arrangement-Fenster. Alles sehr technisch für Mix-Engineers ausgelegt also, und da der Sequenzer zunächst als »Steuergerät« für Synthesizer und Keyboards erfunden wurde, ist es kaum verwunderlich, dass auch Cubase & Co in erster Linie für Keyboarder gut zu bedienen waren.
Für das Prozedere, einen gesampelten Drumloop in sein Arrangement zu integrieren, musste man eine gewisse technische Begeisterungfähigkeit mitbringen. Schon beim Importieren musste man darauf achten, dass Sampling-Frequenz und Bit-Tiefe zu den Grundeinstellungen des Sequenzers passten, damit der Sound überhaupt korrekt wiedergegeben wurde. Hatte man dabei versucht, ein Stereo-Soundfile auf eine Mono-Spur zu ziehen − zurück auf Los: Create Track … oder schlimmer noch: Das Sample im Editor bearbeiten, neu speichern und dann importieren.
Cleverer Workflow
Mit der [Tab]-Taste kann man jederzeit zwischen den zwei Ansichten − Session-View und Arrangement − umschalten. Ableton Lives damals völlig neuer Session-View machte es erstmals möglich, mit einem Sequenzer in Echtzeit zu arrangieren. Aber auch das Browser-basierte Arbeiten und Echtzeit-Timestretching mittels Warp sind Innovationen von Ableton.
Instrumente und Effekte. Mit den »Device Racks« öffneten sich viele neue Türen
War das Sample dann endlich im Sequenzer, musste man u. U. das Tempo anpassen − bei Cubase mit Hitpoints (damals sensationell) oder super genial mit Propellerheads ReCycle, in Logic mit dem Time-Tool (gähn). War der Audio-Loop vernünftig geschnitten (und stimmten Samplingfrequenz usw. überein), konnte der Sequenzer sogar selber das Tempo ausrechnen. Jetzt musste nur noch das gewünschte Ziel-Tempo richtig eingegeben werden, dann war nach einer kurzen Berechnungszeit auch schon der Loop gestretched. Vermutlich ein Mekka für Technikbegeisterte − für Musiker und Songwriter, die schnell eine Idee entwickeln möchten, jedesmal der blanke Horror.
Das es ganz anders gehen kann, zeigte Ableton Live: Drag & Drop − fertig! Und das Ganze funktionierte sogar bei laufendem Sequenzer mit Timing-genauer Vorhörfunktion. Völlig neu damals: Die Samples wurden in Realtime gestretched und folgten automatisch dem Songtempo. Bei anderen Sequenzern musste man dafür sämtliche Samples neu stretchen − von Hand (aaargh)!
Alles das war in Ableton Live 1.0 bereits so sensationell einfach, dass man kein Toningenieur sein musste, um intuitiv mit dem Audiorechner seine eigene Musik zu machen.
Eine weitere Riesenleistung der Berliner Software-Firma ist das grundlegende Konzept von Ableton Live, das den Live-Einsatz auf der Bühne ermöglichen sollte − auch das war mit den bekannten Sequenzern schwieriges Terrain und obendrein höchst unflexibel: Das (lineare) Arrangementkonzept war für die Wiedergabe von Song-Anfang bis -Ende gedacht − von spontanen Änderungen des Arrangements oder gar nachträglichen Tempoanpassungen hat man besser die Finger gelassen.
Für Ableton Live überhaupt kein Problem, denn es bot als sensationelle Neuerung eine neue Darstellung des Sequenzerprojekts: den Session-View. Diese − vornehmlich Loop- orientierte − Arbeitsweise war so etwas wie der Befreiungsschlag für den Computer-Einsatz auf der Bühne. Denn damit war man in der Lage, das Arrangement tatsächlich live zu gestalten. Den Refrain einfach mal weiterlaufen lassen, rüber in den Break, dann den Track nochmal Spur für Spur aufbauen – durch das Kombinieren von Audio-Clips und Scenes war das alles mit Ableton Live kinderleicht. Im Handumdrehen entdeckten vor allem Elektronikmusiker den Ableton- Sequenzer, um damit ihre Live-Sets zu spielen. Dabei konnte Ableton Live schon damals weit mehr als nur Audio-Bauklötze zu stapeln, denn das Programm war von vornherein als Live-Sequencing-Instrument gedacht, mit dem man live on stage komponieren und improvisieren können sollte − intuitiv und immer bei laufendem Sequenzer. Mit dem Drag&Drop-Prinzip und der Sicherheit, dass Loops immer automatisch auf den Beat syncen, war das ernsthaft machbar.
Der Audio-Computer war mit Ableton Live nicht mehr ein Abspielgerät im Bandkontext, sondern wurde aktiver Teil der LivePerformance, nur braucht’s auch den Musiker, der das Live-Sequencing-Instrument mit allen Registern spielt.
To drag or not to drop
Um zügiges Arbeiten mit Soundfiles, Instrumenten und Effekt-Plug-ins zu ermöglichen, machte Ableton auch in der grundsätzlichen Handhabung den Unterschied zu allen anderen Sequenzer-Plattformen. Musste man dort zuerst die Plug-ins in ein Rack laden und später einer Spur zuweisen, fand man bei Ableton Live alle Zutaten für seine Musik übersichtlich aufgelistet in einem Browser, aus welchem man dann einfach alles in den Arbeitsbereich (Session- oder Arrangement-View) zieht − und schon hört man was. Kein Wunder, dass man diese Arbeitsweise heute in (fast) jedem Sequenzer vorfindet, denn so arbeitet es sich viel intuitiver.
Und so wie bei allen Sequenzern wurde die Funktionalität des Browsers auch bei Ableton Live immer weiter verbessert. Inzwischen finden wir Loops und Sounds, Instrumente, Clips und Presets Tag-basiert mit ausgefuchsten Suchroutinen sekundenschnell.
Beats machen
Schwenken wir unseren Blick auf eine Parallelwelt der Entwicklung der Sequenzer in den 80ern und 90ern: Viele HipHop-Musiker nutzten damals Turntables und Sampler für ihre Beats. Sehr beliebt waren Drumsampler wie der E-mu SP12/1200 und ganz besonders Akais »Music Production Center« MPC60, später MPC1000. In dieser Zeit entwickelte sich Loop-orientiertes Arbeiten mit Samples. Anstelle von Tasten sind hier Pads angesagt, mit denen sich die Samples intuitiv spielen lassen − eine minimalistische Arbeitsweise, aber höchst effektiv. Außerdem entwickelte dieses Patchwork-artige Arbeiten eine ganz eigene Soundästhetik, die aus der heutigen Popmusik nicht wegzudenken ist.
Konventionellen Sequenzern eine Looporientierte Arbeitsweise aufzuprägen, war damals echt sperrig − auch heute noch installiert man für diese Zwecke besser NI Maschine in linear arbeitenden DAWs. Den Impuls für automatische Tempoanpassung von Audioaufnahmen und Loops bekamen die damaligen Sequenzer erst durch das Erscheinen von Ableton Live.
Beats zu machen wurde so einfach wie noch nie, denn man konnte lustig Loops stapeln, tweaken, schnipseln, und man hatte im Handumdrehen etwas ganz Neues geschaffen. Und genau dafür hatten sich die Berliner noch ein paar bahnbrechende Tools ausgedacht.
Als Ableton Live erschien, geisterte der Begriff »Elastic Audio« durch die Musikwelt. Samples ließen sich zunehmend in Tonhöhe und Abspielgeschwindigkeit frei gestalten. Aber eine automatische Tempoanpassung oder Tuning bei gleichbleibender Tonhöhe und umgekehrt oder kombiniert − das ging erstmals mit Ableton Live dank WARP. Diese Möglichkeiten haben Beat-Programmer schnell als kreatives Tool entdeckt und genutzt, denn man konnte damit weit in die Sampling-Bearbeitung einsteigen und völlig neue Sounds schaffen.
Möglich wurde dies durch die freie Positionierung von Warp-Markern, die immer noch ein außergewöhnliches Tool zur Umgestaltung von Audiomaterial sind. Positioniert man die Marker neu, lassen sich ausgewählte Bereiche (z. B. ein Snare-Hit) beliebig stauchen und dehnen, was sehr spannend ist, wenn man Drumloops variieren möchte.
Mixing 2.0. Die »Mix-Console« verfügt über sehr innovative Features.
Max for Live
Das klingt wie ein Werbespruch aus der Fitness-Branche, ist aber ein weiterer genialer Schritt in der Entwicklung von Ableton Live. Durch die Kooperation mit den amerikanischen Software-Entwicklern von Cycling 74 integrierte man deren digitales »ModularSystem« MAX/MSP/Jitter − eine der umfangreichsten und flexibelsten Entwicklungsumgebungen für Audio-Software und Video- Anwendungen (Jitter). Max for Live ist ein Powertool für digitale Instrumentenentwickler, das sich aber dank objekt-gestützter Struktur auch ohne tiefgründige Programmierkenntnisse handhaben lässt; dennoch ist die Lernkurve für normale Musiker sehr, sehr steil. Als »normaler« Anwender darf man sich aber freuen, dass das Angebot an Instrumenten für Ableton Live mit Max for Live geradezu explodiert ist. Ein Blick auf die AbletonWebsite zeigt eine riesige Auswahl an samplebasierten Instrumenten, Effekten, cleveren Groove-Tools und vieles mehr. Wer immer auch nach etwas ungewöhnlichen Sounds, Effekten und Instrumenten sucht: Hier gibt es sehr viel Neues zu entdecken.
Sequenzer zum Anfassen
Die Erfolge von Novation LaunchPad und Akai APC zeigten bereits, dass eine starke Nachfrage an Hardware-Controllern existiert, die speziell auf von Ableton Live zugeschnitten sind. Push sollte aber noch enger mit der Funktionalität von Live verknüpft sein, und es gibt wohl keine Controller/Software-Kombi, die auf so geniale Weise miteinander verzahnt ist, wie Push und Live. Clips abrufen, Mischen, Editieren, Basslines spielen, Grooves eintappen bis zum Spielen von Melodien und Akkordfolgen − alles geht. Und zwar ganz nach bekannter Live-Manier einfach und intuitiv.
Beim neuen Push 2 ist die Arbeit sogar noch komfortabler, weil große Displays nun auch Wellenformdarstellung und sehr detaillierte Editierung erlauben, ohne auch nur einen Blick auf den Bildschirm zu werden. So fühlt sich Ableton Live auch an wie das …
Max For Live ist nicht nur was für Nerds! Dank der Integration der modularen Entwicklungsumgebung MAX/MSP/Jitter von Cycling74 sind die Möglichkeiten von Ableton Live schier unendlich. Wer nicht selber in die Tiefen des Programming einsteigen will, kann in – zwischen auf viele Instrumente und Effekt-Plug-ins von Drittanbietern zurückgreifen.
Musikinstrumente der Zukunft
Die beiden Firmengründer Gerhard Behles und Robert Henke (monolake) haben in den späten 90ern erkannt, dass Musiker − oder allgemein: Tonkreative − eine DAW auf ganz andere Weise einsetzen, als es herkömmliche Sequenzer zu dem Zeitpunkt ermöglichten, und haben mit Ableton Live einen GameChanger geschaffen. Nicht selten durften sich Produktspezialisten anderer Hersteller damals die Frage gefallen lassen: »Kann man da nicht so einfach wie bei Live …?« Und irgendwie ging dann auch vieles, aber eben längst nicht so einfach, schnell und intuitiv wie bei Ableton Live − und so manches (s. o.) ging eben gar nicht wie z. B. die automatische Tempoanpassung.
Viele Funktionen in DAWs erscheinen einem heute selbstverständlich, und alle Entwickler lassen sich auch ein wenig von tollen Neuerungen der Mitbewerber inspirieren, sodass einem manches sehr ähnlich oder fast identisch vorkommt. Fakt ist: Ableton Live hat mit Erscheinen der Version 1.0 elektronisches Musikmachen auf einen neuen Level gebracht und sich in den letzten 15 Jahren immer weiter entwickelt zu einem umfangreichen Paket, das mit eigener Sound- Library, Effekten und Instrumenten, Max for Live und Erweiterungen durch Drittanbieter alles bietet, was das Herz begehrt. Eine weitere Leistung dabei ist, dass man trotz Weiterentwicklung des Funktionsspektrums dem grund legenden Konzept des Live-SequencingInstruments treu geblieben ist und die Software sich auch heute noch so einfach handhaben lässt − fast wie die erste Version.
Der Erfolg spricht für sich. Egal ob Singer/ Songwriter, Techno-Produzenten oder LiveElektroniker: Millionen von Musikern arbeiten weltweit mit Ableton Live − im Studio, auf der Bühne, unterwegs, in Server-gestützten Kollaborationen. Ableton everywhere.
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