Elektronische Sounds lassen sich auf vielseitige Weise spielen. Den Step-Sequenzer ziehen viele Elektronikmusiker vor, um Groove-orientiert zu arbeiten, und wer eher auf klassische Weise Synthesizer spielen will, kommt mit den konventionellen Mitteln wie Tastatur und Controllern wie Handräder und Pedale klar. Aber wer wirklich neue Ausdrucksmöglichkeiten entwickeln möchte, braucht auch einen neuartigen Controller. Das Roli Seaboard Rise könnte dann genau das Richtige sein, denn es bietet einzigartige Möglichkeiten, Sounds auf vielfältigste Weise zu kontrollieren.
Über die Töne sliden, polyfonen Aftertouch als Ausdrucksmittel − mit solchen Fähigkeiten war das Haken Continuum Fingerboard lange allein auf weiter Flur. Mit dem Seaboard Grand erntete dann der britische Hersteller Roli große Aufmerksamkeit, allein schon wegen der futuristischen Anmutung des Controllers. Bei der Premiere auf der Musikmesse waren die meisten Leute auf jeden Fall begeistert von den ausdrucksstarken Performances. Selbst einfachste Synthi-Sounds klangen viel lebendiger, als es mit einer herkömmlichen Tastatur möglich wäre.
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War das Oberflächenmaterial der ersten Version des Seaboard noch recht stumpf, so ist das neue Rise, das es mit 25 oder 49 »Tasten« gibt, deutlich besser bespielbar. Portamentos z. B. waren beim Vorgänger nicht wirklich machbar. Allemal ein Grund, das Seaboard noch einmal gründlich unter die Lupe zu nehmen, denn die Ausdrucksmöglichkeiten sind mehr als vielversprechend.
Im Zentrum liegt eine weiche Kunststoff-Tastatur, die sich sehr »anders« anfühlt und spielt als klassische Controller-Keyboards. Übrig geblieben ist davon lediglich die klassische Skalierung der Klaviatur. So gesehen ist es zumindest nicht völlig fremd, trotzdem sollte man sich für die ersten Schritte ein wenig Zeit nehmen. Wer dabei das Gefühl hat, keinen einzigen geraden Ton spielen zu können − bitte ein wenig Geduld: Das legt sich nach einer Weile. Die Tastenoberflächen sind rund, und sobald man eine Taste etwas seitlich trifft, löst man die Pitchbend-Funktion aus. Man kann also einen Ton anschlagen und durch seitliche Hin- und Her-Bewegung einen Vibrato spielen, ganz ähnlich wie bei einer Gitarrensaite. Es geht aber viel, viel mehr damit.
Tastatur & Artikulation
Die Idee des Seaboard ist es, Ausdrucksmöglichkeiten wie Pitchbending, Vibrato etc. nicht durch Hilfsfunktionen wie Handräder o. Ä. zu erzielen. Vielmehr soll die Artikulation sich durch den Tastaturanschlag und Bewegungen der Finger auf dem Material ergeben: Drücken, Ziehen, Wischen, Tippen. Ganz ähnlich also wie bei Saiteninstrumenten, und tatsächlich fühlen sich manche Sounds auch so an, als würde man sie tappen.
Die weiche Gummioberfläche fühlt sich für Pianisten im ersten Moment wirklich etwas komisch an, die Finger bewegen sich etwas träge darin. Man muss aber gar nicht so tief in die Tastatur hineindrücken, denn die Klaviatur des Seaboard reagiert viel sensibler auf Druck, als man anfangs meint. Man kann tatsächlich sehr flink darauf spielen, wenn man erst einmal ein wenig Übung darin hat.
Equator – Die Klangerzeugung zum Seaboard
Zum kompletten Musikinstrument wird das Seaboard mit dem Software-Synthesizer Equator, dessen Controller-Mapping perfekt auf das Seaboard Rise abgestimmt ist. Equator bringt auch gleich viele unterschiedliche Preset-Sounds mit, mit denen man sofort loslegen kann. Und mit jedem neuen Sound, an dem man die Controller ein wenig editiert, versteht man die Zusammenhänge zwischen Controller und Klangerzeugung immer besser.
Die spacigen Lead-Sounds haben mir spontan großen Spaß gemacht − und schon nach ein paar Gehversuchen beginnt man, die Sounds zu artikulieren, und entdeckt die feinfühligen Möglichkeiten der Intonation − für Pianisten völliges Neuland! Man begnügt sich hier auch mit mono- oder duofonen Spielweisen. Polyfones Spielen ist bei sehr sensibel intonierenden Sounds ein echtes Erlebnis, aber für Seaboard-Greenhorns ganz schön schwierig in den Griff zu bekommen.
Das Schöne an Equator ist seine weitgehend an herkömmlichen Synthesizern angelehnte Struktur: Es gibt zwei Sample-Oszillatoren, drei Oszillatoren mit allerlei Wellenformen wie Sinus Sägezahn, Rechteck und dergleichen. Dann gibt es einen Noise-Generator, zwei LFOs, fünf Envelopes, zwei Multimode-Filter sowie eine Effektsektion mit Zutaten wie Bitcrusher, EQ, Reverb, Chorus etc. Soweit ist alles recht überschaubar.
Interessant, oder besser gesagt: komplex, wird’s, wenn man die Mixer-Page öffnet, denn hier lassen sich alle Elemente flexibel routen. Sehr spannend wird dann die »FM-Verdrahtung« der drei Oszillatoren. Equator kann sehr komplexe Sounds erzeugen, die vor allem von der Echtzeit-Steuerung über den Controller leben. Es sollte einleuchtend sein, dass die Kombination aus Seaboard und Equator nicht zum Spielen von Brot-und- Butter-Sounds wie Pianos und Streicher gedacht ist − ich bin begeistert von den Synthesizer-Sounds und freue mich über die tollen Ausdrucksmöglichkeiten, die man hier bei jedem Sound neu entdecken kann.
Klangsteuerung mit dem Seaboard
Über das Seaboard kann man übrigens auch andere Soft- und selbstverständlich auch Hardware-Synthesizer spielen. Ob und wie die Ausdrucksmöglichkeiten polyfon auch dort umgesetzt werden können, hängt von den technischen Möglichkeiten des »Empfangsgeräts« ab. Welche MIDI-Controller wie gesteuert werden sollen, das lässt sich über das Dashboard-Programm sehr genau einstellen.
Die Sounds von Equator lassen sich sehr feinfühlig spielen, und der Synth kennt fünf verschiedene Steuerquellen, die sich in Intensität und Ansprechverhalten einstellen und beliebigen Parametern zuweisen lassen. »Strike« ist dabei das Anschlagverhalten, während sich mittels »Press« z. B. das sanfte Einschwingen darstellen lässt. So kann man den Lautstärke- und Filterverlauf spielen, und eine simple Synthi-Wellenform hat die Anmutung eines Blasinstruments. Hinzu kommen Bewegungen der Finger in horizontale Richtung (Glide) und vertikale Richtung (Slide). Mit »Lift« − die »Loslass«-Zeit − lässt sich die Release-Phase spielerisch gestalten.
Übersichtlich und doch ungemein flexibel: Der Software-Synthesizer Equator ist auf
den Seaboard Controller optimal abgestimmt.
Freies Routing des Signalpfads erlaubt extrem flexible Sounds.
Die Controller-Steuerung des Seaboard Rise lässt sich sensibel einstellen und den
Klangparametern zuweisen.
Im Dashboard-Programm lassen sich die Controller detailliert justieren und den Steuerzielen
zuweisen.
Multitouch via MIDI?
Da wird’s dann etwas kompliziert, allein wenn man sich den Controller Pitchbend vornimmt. Pro MIDI-Kanal gibt es Pitchbend nur einmal. Ein Akkord wird also immer komplett gebendet. Anders funktioniert aber das Seaboard: Hier lässt sich jeder einzelne Ton eines Akkords individuell intonieren. Um das auch mit externen Klangerzeugern zu realisieren, müssen die einzelnen Töne über separate MIDI-Kanäle übermittelt werden.
Wer das Seaboard Rise zum Einspielen in die DAW nutzen möchte, muss daher in manchen Fällen ein Multi-Channel-Setup erstellen. Also maximal 10 Kanäle (für jeden Finger einen, wenn man so will), die dann mit den einzelnen MIDI-Inputs von Equator verbunden werden müssen. Bei der Aufnahme müssen dann eben immer die Kanäle gemeinsam behandelt werden, was etwas umständlich ist.
Praktisch ist’s daher, wenn man Bitwig Studio hat. Diese DAW unterstützt die Multi-Channel-Technik des Seaboard und interagiert komplett als Controller auf nur einem einzigen Kanal. Die kleine 8-Track-Version von Bitwig wird übrigens kostenlos mitgeliefert − und keine Sorge: Man muss nicht immer mit allen zehn Fingern gleichzeitig spielen. 😉
Fazit
Ausdrucksstarke Performance ist wohl das herausstechende Merkmal der Kombination aus Seaboard Rise und Equator. Es ist ein riesiger Unterschied, ob man ein Vibrato lediglich in der Intensität steuert (Modulationsrad) oder es tatsächlich spielt und dabei nicht nur den Modulationshub, sondern auch die Geschwindigkeit variieren kann − je nach dem musikalischen Ausdruck eben, den man anstrebt.
Für Sounds wie Piano und Orgel gibt es bessere Tastaturen, bei Strings (um mal bei den Brot-und-Butter-Sounds für Keyboarder zu bleiben) sieht’s schon ganz anders aus. Langsames Einschwingen und staccato gespielte Akzente lassen sich über das Seaboard artikulieren, ohne auch nur einen Sound umzuschalten. Allerdings muss man bereit sein, dieses Instrument spielen zu lernen, damit die Performance auch akustisch so überzeugt, wie man es sich wünscht.
Mit Blick auf den Preis wird man sich das Seaboard nicht mal eben zum Spaß zulegen. Alle, die neue Ausdrucksmöglichkeiten für elektronische Sounds suchen, bekommen hier jedoch einen hohen Gegenwert: Das Seaboard Rise ist nicht nur einzigartig, es bietet auch hinsichtlich der Verarbeitungsqualität jeden Grund zur Freude. Großartig.
Übrigens: Wer von dem Keyboard des ersten Seaboard bisher enttäuscht war, sollte dem neuen Rise unbedingt noch mal eine Chance geben, denn das Oberflächenmaterial wurde deutlich verbessert, sodass man nun die Finger gerne auflegt.
+++ außergewöhnliche Control-Funktionen
+++ weitreichende Ausdrucksmöglichkeiten
++ flexibler Synthesizer
+++ tolle Hardware
+++ Verarbeitung hochwertig
Seaboard Rise Hersteller/Vertrieb Roli / Sound Service UvP 799,— Euro (Rise 25), 1.299,— Euro (Rise 49)
wie aktuell ist dieser Artikel von Jörg Sunderkötter?
ich vermisse jegliche Datumsangabe bei Sound & Recording!!
Danke für Feedback
Roger
Hallo Roger,
der Testbericht wurde ursprünglich veröffentlich in der Keyboards 01/2016.
Lieben Gruß