Zeitgenössisch

Orchestral Tools Time-Bundle – Orchester-Libraries im Test

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Seitdem sich Orchestral Tools mit der Veröffentlichung des hauseigenen SINE-Players für eine Abkehr von der Kontakt-Plattform entschiedenen hat, schreitet der Portierungsprozess bestehender Libraries unermüdlich voran. So waren unlängst auch die beiden Libraries an der Reihe, die sich mit einem erfrischenden Ansatz dem Thema Zeit verschrieben haben: »Time micro« und »Time macro«. Höchste Zeit also, das Bundle im neuen Gewand einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

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Bei den beiden Libraries handelt es sich keinesfalls um Orchester-Libraries im herkömmlichen Sinn – im Hinblick auf die darin verwendeten Instrumente vielleicht noch gerade so, aber damit hat es sich dann auch schon. Viel zu selten sind nämlich die üblichen Brot-und-Butter-Spielweisen vertreten. Und auch beim ersten Anspielen wird schnell klar: Das klingt zwar nach Orchester, aber was da erklingt, ist alles andere als gewöhnlich. Doch der Reihe nach.

Konzept

Orchestral Tools hat sich vorgenommen, die obligatorische Verbindung von Klang und Zeit auszuloten, und bietet mit den Time-Libraries ausgefuchste Sounds an, die sich im zeitlichen Verlauf von selbst verändern oder zusätzlich durch beherztes Eingreifen verändern lassen. Dementsprechend findet man bei beiden Libraries meist Sustain-Artikulationen vor, die genügend Raum bieten, damit sich Modulationen über die Zeit entwickeln können.

Das Besondere der Time-Geschwister beginnt bereits beim Sampling. Hier wurden massenhaft außergewöhnliche Spielweisen aufgenommen, die bereits während der Aufnahme für aussagekräftige Klangänderungen im zeitlichen Verlauf sorgten, z. B. auf tonaler, rhythmischer oder dynamischer Ebene. Kombiniert mit einem weiteren Layer, der per ModWheel dazugefahren werden kann, mit Sounds, die zusätzlich durch den Wolf gedreht wurden, oder mit charakterstarken Kombinationen bestimmter Instrumente, entstehen so später klangliche Möglichkeiten, die alles andere als alltäglich sind.

Der Unterschied zwischen »Time macro« und »Time micro« besteht hauptsächlich in der Größe der Ensembles und damit auch in der Größe des Sounds. Man könnte sagen: Einmal die orchestrale und einmal die kammermusikalische Version, aber damit allein ist es nicht getan. Die micro-Version setzt nämlich u. a. auch auf zehn Solo-Instrumente, die teilweise einen besonderen und sehr weichen Sound mitbringen. So sind hier beispielsweise Flügelhorn, Basstrompete/-flöte/-oboe, Bassetthorn, Kontrabassklarinette etc. als Solisten vertreten. Alle ebenfalls in Form von aussagekräftigen Artikulationen und Kombinationen für entsprechend charakteristische Ergebnisse.

Die Struktur wiederum ist bei beiden Libraries gleich und in drei Ordner unterteilt: Chrono Structures, Combined und Individual Sections. Diese Reihenfolge repräsentiert auch gleichzeitig eine Reise von groß nach klein: vom kompletten Orchester- bzw. Ensemblesound über kombinierte Gruppen bis hin zu noch weiter aufgeteilten High-/Low-Varianten bzw. Solo-Instrumenten bei Time micro. Neben dem Orchester-Instrumentarium ist erfreulicherweise auch ein gemischter Chor an Bord.

Abgerundet wird das Ganze durch eine erfreuliche Auswahl verschiedener Mikrofonpositionen, in denen die Samples aufgenommen wurden und die im SINE-Player zur Verfügung stehen. Hier finden sich Spot, Tree, AB und Surround – manchmal sogar in verschiedenen Varianten – oder auch ORTF-Aufnahmen. Sehr schön!

1_Artikulationen
In der Library-Ansicht des hauseigenen SINE-Players sind neben der Ordnerstruktur und den Mikrofonpositionen die zahlreichen, ungewöhnlichen Artikulationen am Beispiel der Low Strings zu erkennen.

Sound

Die Time-Libraries kommen nicht mit der Brechstange daher, und brachiale Bigger-than-life-Sounds für den nächsten Action-Cue lassen sich damit gewiss nicht abfeuern. Man könnte eher sagen, dass sie bewusst genau an dieser Grenze aufhören und das lieber anderen Libraries überlassen. Dafür sind sie aber in den leisen Bereichen viel differenzierter aufgestellt, und es erklingen oftmals stimmungsvolle und subtile Sounds, die sich dann häufig sehr überzeugend z. B. in das Level des Bedrohlichen oder Verheißungsvollen steigern lassen.

Trotz aller Zurückhaltung ist der Sound beider Libraries ohne Frage über jeden Zweifel erhaben. Insgesamt ist es ein organischer und lebendiger Sound, der davon lebt, dass die Instrumentalisten ihren eigenen Ausdruck und oftmals auch das eigene Timing deutlich mit einbringen konnten. Zusätzlich bringt der Teldex-Aufnahmeraum seine edle Signatur mit, und die gut gewählten Mikrofonpositionen erlauben es, den Raum mehr oder weniger stark hörbar zu machen.

Bei Time macro erklingt oftmals ein schöner, voller und seidiger Sound. Je nach eigener Spielweise entwickeln sich aus den Sounds manchmal musikalische Kleinode, die über die Zeit variieren und in dessen Sphären man sich gerne mal verliert.

Auch bei Time micro gibt es volle, seidige Sounds, gerade in den tiefen Lagen teilweise schön weich und mellow, aber meist ist alles noch eine Nummer kleiner und dezenter als beim großen Bruder. Teilweise erklingen gerade bei lauteren Dynamiken auch etwas harschere Sounds. Das klingt dann zwar manchmal rougher, gleichzeitig aber auch intimer und fragiler, was definitiv seinen Reiz hat.

Insgesamt wird ein breites Spektrum, von konventioneller anmutenden, direkt identifizierbaren Orchester-Sounds bis hin zu abgefahrenen Spielweisen und ungewohnten Soundwelten geboten. Von lyrisch getragen über mystisch bis hin zu schräg ist hier alles dabei. Die verschiedenen Ensembles und die manchmal ungewöhnlichen Instrument-Kombinationen sind sehr gelungen, und auch das wunderbare Streichquartett oder die Kombination aus Harfe, Celeste und Mandoline wissen zu verzaubern.

Teilweise begegnen einem Sounds, die man nicht unbedingt ausschließlich von einem Orchesterinstrumentarium vermutet hätte, sondern eher von elektronischen Klangerzeugern. Das hat sicherlich auch mit den »Altered Time«-Sounds zu tun, in denen zusätzlich gepitchte oder rückwärts abgespielte Samples vorkommen können und die eine echte Bereicherung im Klangkosmos der Time-Libraries darstellen.

2_Mixer
Im Mixer kann auf die verschiedenen Mikrofonpositionen zugegriffen werden. Diese können einzelnen Ausgängen zugewiesen und in Panorama und Lautstärke angepasst werden. Um Ressourcen zu sparen, besteht die Option, den eigenen Mix bequem auf einen einzelnen Kanal zu mergen.

In der Praxis erweist es sich als Segen, dass die Libraries wie anfangs beschreiben strukturiert sind. Bedient man sich der Sounds aus dem »Chrono Structures«-Ordner, kann es vorkommen, dass man mit einem Full-Orchestra-Sound schon eine ganze Soundwelt etabliert hat und mit dieser einen kompletten Cue vertonen kann. Fehlt doch noch das eine oder andere Element oder ist das Full-Orchestra-Patch zu unflexibel, kommt man über die Ordner »Combined« oder »Individual Sections« schnell zum Ziel, weil man hier eine differenziertere Auswahl an Orchestergruppenkombinationen vorliegen hat.

Während bei den beiden letztgenannten Ordnern die darin liegenden Patches klar den aufgenommenen Instrumenten über ihre Namen zuzuordnen sind, ist das bei den Chrono Structures schon schwieriger. Wer sich hier schnell zurechtfinden möchte, der kann sich zumindest bei der macro-Version noch über ein Online-Dokument behelfen, in dem einige Instrumentierungen verzeichnet sind, bei der micro-Version funktioniert das leider schon nicht mehr.

Je nach Instrumentierung variiert die Keyboard-Range der Patches teilweise erheblich. Bei sehr kleinen Ranges von etwas mehr als drei Oktaven kann die Tonart des entsprechenden Stücks darüber entscheiden, ob der gebotene Tonumfang des Patchs ausreicht oder nicht. Hier bietet der SINE-Player glücklicherweise die Möglichkeit, die Range einfach nach oben oder unten zu erweitern. Diese Erweiterung geschieht dann zwar per einfachem Pitching, weil im Patch ja keine weiteren Samples mehr vorhanden sind, aber für ein paar wenige Töne funktioniert das gut.

Überhaupt hat sich der SINE-Player als erfreulich unauffällig präsentiert. Er kommt in Version 1.1.2 recht schlicht und ohne viel Schnickschnack daher, ist aber ein zuverlässiger Geselle: Sounds werden schnell geladen, die CPU-Belastung hält sich in Grenzen, und ein Arbeiten lief damit stabil und ohne Zwischenfälle. Manchmal hätte ich mir bei der implementierten Legato-Funktion die Möglichkeit eines synthetischen Portamentos gewünscht, um bei manchen Sounds ein Legato faken zu können, auch wenn es keine entsprechenden Legato-Samples im Patch gibt. Evtl. kommt das ja in einer der nächsten Versionen.

Wo viel Licht ist, ist oft auch Schatten und tatsächlich bin ich beim Time-Bundle durch einen Umstand immer wieder an Grenzen gestoßen, die meiner Meinung nach unnötig sind bzw. massiv Potenzial verschenken: die Synchronisierung mit dem Host. Technisch funktioniert sie einwandfrei, das Problem ist eher, dass ich sie mir innerhalb der Libraries öfter gewünscht hätte. Gerade bei einem Bundle, das »Time« im Namen trägt und bei dem das zeitliche Element bei sehr vielen Sounds deutlich zu spüren ist, sind meiner Meinung nach zu viele Sounds unflexibel im aufgenommenen Tempo verewigt. Bei einigen Sounds, die unauffälliger modulieren, ist das noch eher zu verschmerzen, aber gerade, wenn es tonal wird, wie z. B. bei den herrlichen »Glissandi harmonic« des Streichquartetts oder bei diversen Stutter-Sounds, Arps, Swells oder Crescendi, ist ein abweichendes Tempo des Hosts bei großen Tempounterschieden eindeutig hörbar und störend. Hier würde ich mir zumindest eine Time-Stretch-Option im SINE-Player wünschen, mit der ich das Tempo des gesamten Patches oder wenigstens einzelner Samples manuell anpassen kann. So wären die Libraries um einiges flexibler, blieben aber gleichzeitig zu älteren Projekten kompatibel.

3_Performance
Im gelungenen Performance-View ist es im Poly-Mode möglich, Patches per Mehrfachauswahl zu layern und zwischen den Layern dann per Modwheel oder Velocity zu überblenden.

Fazit

Das Time-Bundle ist in vielerlei Hinsicht besonders und bringt dadurch einen eigenständigen, lebendigen und oftmals einzigartigen Sound hervor, der mit gewöhnlichen Libraries in dieser Form nicht zu erreichen ist. Deshalb ist das Bundle sicherlich auch nicht die erste Wahl, wenn man vor der Entscheidung steht sich die erste Orchester-Library anzuschaffen. Ist hier allerdings schon ein solider Grundstock vorhanden, so erhält man mit dem Time-Bundle ein großes Spektrum an Farben und Ausdrucksweisen, die eine echte Bereicherung der Brot-und-Butter-Orchester-Libraries darstellen. Ob diejenigen Patches, deren Tempo nicht zum Hosttempo synchronisiert werden können, stark ins Gewicht fallen, hängt sicherlich auch vom persönlichen Geschmack, der zu produzierenden Musikrichtung sowie weiteren Faktoren ab.

Die Time-Libraries sind zwar sehr gut für Filmmusik einsetzbar, aber nicht zwingend darauf ausgelegt. Sie sind auch sehr für zeitgenössische Musik oder insgesamt modernere Richtungen zu empfehlen. Es macht jedenfalls riesigen Spaß, solch einen organischen Instrumentalsound fernab ausgelatschter Pfade einzusetzen und sich durch die verschiedenen Soundwelten zu bewegen, die eine echte Inspirationsquelle sein können.


Hersteller: Orchestral Tools

Download-Preis: Time-Bundle: 499,– Euro

Time macro / micro einzeln: je 349,– Euro

Internet: www.orchestraltools.com

Unsere Meinung
+++ eigenständige, unkonventionelle Sounds
+++ ausgefallene Spielweisen und -Kombinationen
++ Mikrofonpositionen
– viele Sounds nicht zum Hosttempo synchron

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