Die Firma Audio-Technica fertigt bereits seit 40 Jahren Kopfhörer. Umso unglaublicher ist, dass die Japaner noch nie einen offenen Studiokopfhörer im Angebot hatten. Bis jetzt! ATH-R70x heißt das »Erstlingswerk« des Traditionsherstellers — man darf gespannt sein!
Wie es sich für einen Premium-Kopfhörer gehört, kommt der ATH-R70x in einer übergroßen, edel gestalteten Kartonverpackung. Auch das Zubehör orientiert sich am gängigen Standard: Es liegen ein Staubschutzbeutel und ein 3 Meter langes, gerades Kabel bei sowie ein Schraubadapter von 3,5-mm-Miniklinke auf 6,3-mm-Großklinke. Erste Besonderheiten zeigen sich schon beim Herausheben des Kopfhörers aus der Verpackung. Er ist nämlich ausnehmend leicht. Nur 210 g wiegt die Konstruktion, die deshalb auch nur einen geringen Anpressdruck benötigt, um sicheren Halt auf dem Kopf zu finden.
Ungewöhnlich ist auch die Bügelkonstruktion. Einstellmechanismen zum Anpassen an die individuelle Kopfform und -größe sucht man vergebens. Sie sind auch gar nicht nötig, denn zwei gepolsterte »Flügel«, die sich dreidimensional beweglich an den Schädel schmiegen, sorgen für einen wackelfreien Sitz. Die Mechanik ist gleichermaßen simpel wie genial.
Kurios ist die beidseitige Kabelzuführung. Seit den 1990ern ist die einseitige Kabelzuführung mit wenigen Ausnahmen ein gesetzter Standard, zumal sie nebenbei auch die Orientierung ersichtlich macht. Beim ATH-R70x sind linke und rechte Muschel kaum zu unterscheiden. Lediglich ein diskretes L bzw. R auf der Innenseite der Gelenke weist die Orientierung aus − im Dunkeln wird das schwierig! Zumindest beim abnehmbaren Kabel besteht keine Vertauschungsgefahr. Egal wie man die verriegelbaren Miniklinkenstecker in die Muscheln stöpselt, links bleibt links und rechts bleibt rechts. Der Trick ist simpel: Beide Kabelhälften übertragen beide Stereokanäle, während die Buchsen in den Muscheln jeweils nur den relevanten Kanal abgreifen. Positiv anzumerken ist außerdem, dass das doppeladrige Kabel äußerst robust wirkt.
Die Hörermuscheln selbst sind circumaural konstruiert, d. h., die Velourspolster umschließen das Ohr. Die meisten Anwender empfinden das angenehmer als ohraufliegende Muscheln. Die Schallwandler sind extrem offen konstruiert. Nach außen werden sie nur durch ein Aluminium-Lochblech geschützt, das eine Bienenwabenstruktur aufweist und akustisch extrem offen wirkt. Das Material würde gewiss auch für einen Mikrofonkorb taugen.
PRAXIS UND KLANGVERHALTEN
Für heutige Verhältnisse weist der ATH-R70x eine ungewöhnlich hohe Impedanz von 470 Ohm auf. Das ist nicht viel weniger als die guten alten 600-Ohm-Kophöhrer, die einst Studiostandard waren, jedoch an heutigen Kopfhörerausgängen kaum noch auf praxisgerechte Lautstärke kommen. Derartige Befürchtungen muss man beim ATH-R70x nicht haben, denn mithilfe moderner Magnetmaterialien erzielen die Schallwandler eine recht hohe Empfindlichkeit von 98 dB. Damit ist er 10 dB »lauter« als mein guter alter 600-Ohm-Liebling AKG K240 DF.
In der Praxis kam ich an jedem getesteten Kopfhörerausgang von Monitor-Controller über Laptop bis hin zum iPad auf (mindestens) ausreichende Lautstärke. Gleichzeitig bleibt der Vorteil der erhöhten Impedanz bestehen: Da die Kopfhörerendstufe weniger schuften muss als bei einer niedrigen Last – impedanz, kommt es zu geringeren Verzerrungen.
Tatsächlich klingt der ATH-R70x ungemein sauber. Besonders beeindruckend ist die Abbildung von Sprache und Gesang. Selten habe ich so fein ziselierte Zischlaute gehört. Stimmen erscheinen auf betörende Wei se unverfälscht und echt. Es ist eine Direktheit, die nicht künstlich herbeigeführt ist, etwa durch eine Präsenzanhebung; es ist die Unmittelbarkeit des Gefühls, die berührt. Schließt man die Augen, glaubt man sich an den Ort des Geschehens versetzt − auch wenn die wenigsten Popaufnahmen jemals wie gehört stattgefunden haben. Und das macht den ATH-R70x zu einem exzellenten Kopfhörer fürs Mixing bzw. zur Nachkontrolle unter der akustischen Lupe: Sind alle Spuren perfekt ausbalanciert, die Einzeleile in einem harmonischen Verhältnis, hört sich das Gesamtgefüge an wie eine Aufnahme, die so stattgefunden haben könnte.
»Harmonisch« ist auch das Adjektiv, das den Klang des ATH-R70x am besten beschreibt. Die meisten Kopfhörer tendieren zu einem über-analytischen Klangbild, in dem kleine Klangdetails überproportional an Bedeutung gewinnen. Das führt bisweilen zu falschen Mix-Entscheidungen. Mit dem ATH-R70x fällt es dagegen leicht, sich auf das zu konzentrieren, was den Musikkonsumenten tatsächlich interessiert: das Gesamtbild.
Der ATH-R70x wirkt optimal ausbalanciert. Der Bass klingt sehr klar und reicht tief hinab, ohne aber die Subbässe über Gebühr zu featuren. Der gesamte Mittenbereich erscheint unverfälscht; Klangfarben werden detailliert aufgelöst und lassen sich ohne jede Anstrengung beurteilen. Die Höhen wirken natürlich und weich. Im Vergleich zu meiner persönlichen Referenz, dem AKG K702 Anniversary Edition (ähnlich dem aktuellen K712), klingt der Audio-Technica ATH-R70x etwas milder. Das erstaunt mich schon deshalb, weil ich die Höhen des AKG als angenehm luftig beschreiben würde. Der Audio-Technica löst gerade in den oberen Präsenzen, d. h. im Bereich der Zischlaute, noch etwas feiner auf. Das ist Vorteil und Nachteil zugleich. Das Klangbild des ATH-R70x wirkt (noch) ermü- dungsfreier und hat eine unangestrengte Natürlichkeit, die das Abhören zum Genuss macht. Beim Mixing bzw. der Endkontrolle muss man jedoch aufpassen, dass die Höhen auf »normalen« Wiedergabesystemen nicht scharf klingen. Denn die entspannte Natürlichkeit des ATH-R70x ist (leider) einzigartig.
FAZIT
Beim Thema Studiokopfhörer denken viele reflexartig an geschlossene Systeme. Erst in den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch ein offener Kopfhörer ins Studio gehört und für Mix und Mastering − wo Übersprechen kein Thema ist − die bessere Lösung darstellt. Sei es als akustische Lupe für die Detailarbeit oder als Lautsprecherersatz für Nachtarbeiter. Gerade Letzteren möchte ich den ATH-R70x nachdrücklich empfehlen, denn ein so harmonisches, natürliches und unangestrengtes Klangbild findet man bei Kopfhörern ganz selten. So macht auch längeres Arbeiten mit dem Kopfhörer Spaß. Nebenbei ist es auch ein ausgezeichneter Kopfhörer, um Musik zu konsumieren. Nein, genießen!
Dem Hersteller darf man gratulieren. Audio-Technicas erster offener Studiokopfhörer reiht sich mühelos in die Oberklasse ein.
ATH-R70x
Hersteller/Vertrieb
Audio-Technica
UvP/Straßenpreis
389,- Euro / ca. 349,- Euro
www.audio-technica.de
Fotos: Dr. Andreas Hau