Die ständige Suche nach dem letzten Quäntchen Authentizität bei gesampelten Instrumenten treibt immer neue Blüten. So nimmt sich VSL mit der Library „Vienna Dimension Brass“ vier Blechbläserquartetten mit neuem Konzept an. Ensemblesound und trotzdem jede Stimme einzeln im Zugriff? Man darf gespannt sein …
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Die mit herkömmlich gesampelter Brass-Ensemble-Librarys verbundene Problematik ist Arrangeuren und Komponisten nicht fremd: Bei Solo-Linien funktionieren Brass-Ensembles recht gut, versagen aber bei polyfoner Spielweise, da eine Schichtung ganz anders klingt als ein aus Einzelinstrumenten gebildeter Bläsersatz. Würde man zwecks Mehrstimmigkeit versuchen, ein Ensemble aus den immer gleichen Soloinstrumenten am Rechner nachzubauen, wäre einiges an Detailarbeit nötig, denn der Ensemblesound wird von mehreren Faktoren bestimmt: Z. B. variieren die einzelnen Spieler immer minimal in Timing und Tonhöhe und interagieren, um sich einander anzugleichen. Außerdem bestimmen die persönliche Spielweise und die leicht unterschiedlich klingenden Instrumente jedes Spielers sowie zu guter Letzt der Zusammenklang im gleichen Raum den Gesamtsound des Ensembles.
Multi-Dimensional
Genau hier setzt VSL mit ihrem Konzept des „Multi-Dimensional Virtual Instruments” an. Auch wenn man glauben möchte, dass der 3D-Hype jetzt tatsächlich auch noch bei den virtuellen Instrumenten angekommen ist, beziehen sich die multiplen Dimensionen vielmehr auf die Einzelstimmen der jeweiligen Ensembles – und machen dort richtig Sinn. Hier wurde nämlich jedes Instrument der vier Quartette einzeln mikrofoniert, sodass einerseits der Zugriff auf jede einzelne Stimme möglich ist, andererseits soll aber durch das gleichzeitige Einspielen der oben beschriebene typische Ensemblesound erhalten bleiben. Das Beste aus beiden Welten sozusagen.
Die beiliegende Kurzanleitung verspricht durch die Benutzung des VI-ProPlayers weitergehende Features, und schon ertappe ich meine linke Hand dabei, wie sie eine DVD ins Laufwerk legt … Die Installation gestaltet sich relativ einfach. Neue User finden auf der Software-DVD vorbildlicherweise Videos für Mac und PC, die alles im Detail erklären, und VSL-User kennen ja das Prozedere und sollten lediglich darauf achten, dass die bereits installierte VSL- und eLCC-Software auf dem neusten Stand ist. Die Software-DVD ist reichlich bestückt und so findet man noch weitere Tutorials, die den VSL-Player betreffen, sowie zusätzliche Software und deren Handbücher. Allerdings hätte ich mir auch das Handbuch zur eigentlichen Library dort gewünscht, denn dieses wird einem nur per Download in der User-Area zur Verfügung gestellt.
Praxis
Nach der Installation beherbergt man ab jetzt die folgenden vier Blechbläser-Ensembles auf seiner Festplatte: – Trumpet Ensemble (vier Trompeten in B), – Horn Ensemble (vier Hörner), – Trombone Ensemble (vier Posaunen) und – Low Brass Ensemble (Tuba, Bassposaune und zwei Posaunen, die eine Oktave höher spielen). Die Instrumente liegen wie von VSL gewohnt mit vielen differenzierten Artikulationen vor, wobei man hier – außer beim Low Brass Ensemble – jeweils zwei verschiedene Matrix- bzw. Preset-Pakete geschnürt hat: „enhanced” mit allen Artikulationen und „compact”, das nur die wichtigsten enthält und somit beim RAM-Sparen hilft. Hier ist eigentlich alles dabei, was man im virtuellen Orchesterbetrieb benötigt.
Dass auf Vibrato-Spielweisen verzichtet wurde, fällt meiner Meinung nach nicht groß ins Gewicht, allerdings vermisse ich wirklich Glissandi und Falls, die einer Brass-Library im Allgemeinen und Posaunen und Hörnern im Besonderen gut zu Gesicht gestanden hätten. Schade, denn einerseits werden diese Artikulationen in der Orchester- und Filmmusik durchaus ab und zu benutzt, und andererseits hätte das die Library auch für den Einsatz in Pop und Jazz interessanter gemacht, wo reger Gebrauch von solchen Spielweisen gemacht wird. Aber wer weiß, da VSL für seine vorbildliche Produktpflege bekannt ist, darf man sich ja vielleicht auf ein Update oder eine Extended-Version freuen.
Einen ausführlichen Bericht zu analogen Blech und deren Abnahme mit verschiedenen Mikros findest du in unserem aktuellen:
Sound&Recording 02/16 – Brass Recording Special
In der Sound&Recording-Ausgabe 02/16 steht die Mikrofonierung von Blasinstrumenten im Fokus. Wir haben mit jeweiles über 25 Mikrofonen an Trompete, Posaune und Saxofon Audiobeispiele erstellt, die ihr hier auf der Website über SoundCloud auch anhören könnt. In unserem Brass Recording Special im Heft geben wir euch einen Einblick hinter die Kulissen der Recordings mit dem Bläsersatz aus “Sing mein Song – Das Tauschkonzert”. In unseren Tests findet ihr das Kleinmembranmikrofon-Stereoset Telefunken M60 FET. Für alle Homerecorder zeigt S&R-Leser Felix Krawcyk, wie er sein Homestudio aufgepimpt hat. Im zweiten Teil unserer DAW History Reihe geht es um den Game-Changer Ableton Live. Alle Love The Machines Fans können sich auf den Yamaha DX200 (*2001) freuen.
Den kostenlosen VI-Player sollte man auf jeden Fall in der ebenfalls kostenlos mitgelieferten Vienna-Ensemble-Software betreiben, die ein komfortables Wechseln zwischen den einzelnen Playern ermöglicht, ohne ständig Plug-in-Fenster öffnen und schließen zu müssen. Um mit dem VI-Player ein Ensemble spielen zu können, braucht man vier Instanzen, in die man jeweils ein anderes Instrument des Ensembles lädt und dann alle gleichzeitig ansteuert. Das bringt auch schnell das gewünschte Ergebnis, aber so richtig komfortabel und vor allem ausgefuchst wird es, wenn man den kostenpflichtigen VI-ProPlayer einsetzt. Hier spielt die Library ihre ganze Stärke aus und profitiert von den auf den Leib geschneiderten PRO-Presets bzw. -Matrizen.
Im VI-Pro-Player begegnen einem wieder die alten Bekannten „enhanced” und „compact” für die einzelnen Stimmen, jedoch gibt es zusätzlich „all” für alle Stimmen in den Geschmacksrichtungen „enhanced”, „compact”, „auto-divisi” und „cluster”. Lädt man also solch eine Matrix oder ein Preset mit dem Zusatz „all” im Namen, werden alle vier Instrumente des Quartetts in einen Player geladen, wo sie direkt im Stereo-Panorama verteilt sind und gleichzeitig von den auf das Quartett abgestimmten Humanize-Funktionen Gebrauch machen. Das ist wirklich edel, denn so sind überzeugende, lebendig klingende Unisono-Linien des Ensembles direkt spielbar. Und da es der Player auch erlaubt, Legato-Artikulationen polyfon zu spielen, steht somit z. B. feisten, zweistimmigen Hornlinien mit jeweils vier Hörnern nichts im Wege.
Ein besonderes Schmankerl der „all-compact” Programme ist es, dass man mittels vertikalem Keyswitch (Y-Achse) zusätzlich die aktiven Instrumente des Quartetts variieren kann. So stehen einem Instrument 1 – 4, 1 – 3, 1 + 2, 3 + 4 und 1 (solo) zur Auswahl, und man kann kinderleicht Soli oder musikalische Dialoge realisieren. Ein weiteres Highlight sind die „auto-divisi” Matrizen, die Polyfonie innerhalb des Ensembles erlauben. Ebenfalls per vertikalem Keyswitch können diesmal die auf die Spieler zu verteilenden Stimmen gewählt werden. Das funktioniert von unisono bis zu vierstimmigen Akkorden sehr gut, allerdings – und das ist der einzige Wermutstropfen – leider nicht mit Legato-Patches, weil der Player die Stimmen sonst nicht zuordnen kann. Perfekt wäre auch, wenn man die internen Mixerkanäle auf die Einzelausgänge des Players routen könnte, um sie im Mischpult des Sequenzers einzeln weiterzubearbeiten. Auch Mute- und Soloschalter pro Kanal wären toll. Allerdings betreffen diese Wünsche nur den Player und man kann sie der Library nicht ankreiden – aber vielleicht darf man ja diesbezüglich auf das bereits angekündigte 2.0-Update hoffen?
Die Divisi-Funktionen können übrigens auch bei allen anderen Programmen im Reiter „Voice” aktiviert und konfiguriert werden. Hier gibt es die entsprechenden sinnvollen Presets, aber wie gesagt, die Angelegenheit ist eher etwas für kurze Artikulationen bzw. Akkorde ohne Legato – dann macht es allerdings richtig Spaß! Der Vollständigkeit halber gehe ich noch kurz auf die Cluster ein. Hier findet man die gleichen Artikulationen wie bei der „compact”- Matrix und kann per vertikalem Keyswitch die Art des Clusters wählen: entweder statisch oder zum Cluster hinführend (also nach gestimmtem Attack verstimmend) oder vom Cluster kommend (zuerst verstimmt, am Ende nicht mehr). Und das alles wurde wohlgemerkt durch die Humanize-Funktion realisiert, also in Intensität und Art und Weise pro Stimme steuerbar. Sehr schön!
Sound
Die einzelnen Instrumente der Ensembles klingen alle unterschiedlich und sind sehr gut aufeinander abgestimmt. Man bekommt zwar insgesamt 16 Instrumente, allerdings sind diese nicht als gleichwertige Soloinstrumente, sondern immer im Ensemble-Kontext zu sehen. Instrument 1 ist dabei als Solist oder Stimmführer gedacht, was durch den direktesten Sound und die entsprechend tighten Humanize- Einstellungen im VI-Pro auch am meisten Sinn ergibt.
Die anderen Stimmen sind zwar durchaus autark, klingen aber zeitweise nicht ganz so direkt, wenn man sie einzeln spielt. Dadurch, dass die Musiker bei der Sampling-Session nicht komplett isoliert waren, hört man hier und da ein leichtes Übersprechen der anderen Stimmen, was aber im Zusammenspiel nicht weiter auffällt, sondern vielmehr den für den Ensemble-Sound wichtigen Klang im Raum wunderbar einfängt. Mit einer Nachhallzeit von 0,5 Sekunden und linearer Färbung können die in der Silent Stage aufgenommenen Samples später aber noch problemlos mit einem Hallprozessor der Wahl belegt werden.
Der Grundsound dieser Library ist wie von VSL gewohnt sehr hochwertig und trägt auch die VSL-Sound-Handschrift, klingt aber bei Weitem lebendiger und hat viel mehr Live-Charakter als die bisherigen VSL Ensembles. Die Trompeten klingen strahlender, voller und tatsächlich irgendwie „mehrdimensional” im Gegensatz zu statischen, im direkten Vergleich fast flach wirkenden Ensemble- Samples. Die Hörner haben einen wunderschönen, charaktervollen Klang, der in hohen Lagen angenehm singt, voll und weich ist, aber auch sehr schön und mit Schmelz schmettern kann. Auch die Posaunen sind angenehm rund und werden im Fortissimo in den tiefen Lagen schön breit anstatt spitz und dünn. Zu guter Letzt noch das perfekt abgestimmte Low Brass Ensemble, das wie prädestiniert für Filmmusik ist und direkt die nächste Bluttat auf die imaginäre Leinwand zaubert.
Fazit
Ich erlebe immer wieder Momente, in denen ich glaube, dass ein wichtiger Entwicklungsschritt in die richtige Richtung gegangen wurde, um das rechnerbasierte Produzieren dem Original erneut ein gutes Stück näher zu bringen, und jetzt erlebe ich definitiv wieder solch einen Moment.
Wenn es hier etwas zu bemängeln gibt, dann höchstens die fehlenden Fall- und Glissandi-Artikulationen … und dass man bei VSL in Erwägung ziehen sollte, für den VI-Pro-Player zumindest einen Rabatt bei Kauf dieser Library einzuräumen, weil man vom Workflow und vor allem vom Ergebnis her eigentlich nicht daran vorbei kommt. Das alles tritt allerdings ganz schnell in den Hintergrund, wenn man erst einmal mit der Library gearbeitet hat, denn diesen authentischen Sound und seine Lebendigkeit möchte man nicht mehr missen und wünscht sich sofort für alle anderen Instrumentengruppen die gleichen Möglichkeiten.
Profil
Hersteller / Vertrieb: VSL / Best Service Kopierschutz: ViennaKey (nicht im Lieferumfang enthalten) Internet: www.vsl.co.at UvP / Straßenpreis: € 595,– / ca. € 490,–