Mehr als nur Hits

Charlie Puth und sein aktuelles Soloalbum Charlie

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Der US-amerikanische Erfolgsproduzent Charlie Puth lädt uns via Zoom in sein Studio in LA ein. Hier spricht er über den schnellen Erfolg und seinen steinigen Weg zu künstlerischer Anerkennung.

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Wäre es nicht wunderbar, mit einem Übermaß an Talent ausgestattet zu sein und schon im Alter von 24 Jahren seinen großen Karrieredurchbruch zu erleben? Und sich obendrein an einem halben Dutzend Mehrfach-Platin-Hits und fünf Grammy-Nominierungen erfreuen zu dürfen? Der perfekte Lebenstraum, könnte man meinen – oder doch nicht …?

Der US-Amerikaner Charlie Puth scheint zu diesen vom Schicksal begünstigten Künstlern zu gehören. Er besitzt ein absolutes Gehör mit dem akustischen Pendant zum fotografischen Gedächtnis. Er sprudelt geradezu vor Kreativität über und versteht sich bestens auf den erfolgreichen Umgang mit Social-Media. Und dennoch: Charlies Werdegang verlief nicht immer nur in strahlendem Sonnenschein. Nicht selten wurde er von Fragen nach künstlerischer Identität und Sinnfindung überschattet.

Charlies Wege zu künstlerischer Anerkennung führten unter anderem über ein Debütalbum, welches vielfach als »anonymer Seelenmüll« von »harmlos« bis »ärgerlich«, beschrieben wurde – nicht gerade ein beneidenswerter Einstieg … Noch Jahre später wird sein musikalischer Output von keinem Geringeren als Elton John heruntergemacht. Es folgen eine Neuausrichtung, ein eingestampftes Album und schließlich ein drittes Werk, inspiriert von zwei Trennungen und der Erfahrung, sich plötzlich mit Millionen von TikTok-Fans auseinanderzusetzen.

Dieses schlicht mit Charlie betitelte Album wurde im vergangenen Oktober veröffentlicht und ist zweifellos vom dringenden Wunsch geprägt, nun endlich eine ernsthafte, künstlerische Wahrnehmung zu erfahren. Und dieses Mal scheint es zu funktionieren! Immerhin wird Charlie als »bisher authentischstes Werk« mit »schimmernden Pop-Perlen« und »Augenblicken von echter Pop-Perfektion« gefeiert.

Alles scheiße?

Wir unterhalten uns mit Charlie Puth via Zoom über seinen Werdegang, seine Bemühungen um künstlerische Anerkennung und schließlich den Erfolg. Charlie beginnt das Gespräch mit seinem Elton-John-Erlebnis von 2021. Damals erhält er von dem britischen Superstar eine Anfrage zur Zusammenarbeit für dessen Album The Lockdown Sessions. Die Angelegenheit steht offenbar unter keinem guten Stern, denn im Laufe der Email-Korrespondenz bezeichnet Elton Charlies Musik schlichtweg als »Scheiße«. »Damit hatte er nicht einmal Unrecht«, erklärt Charlie. »Die bösen Kritiken für meine beiden ersten Alben (Nine Track Mind, 2016 und Voicenotes, 2018) waren nicht unberechtigt. Sie haben mich aufgerüttelt. Ich habe Elton später noch einmal persönlich getroffen. Er riet mir dringend davon ab, mit zu vielen Leuten zusammenzuarbeiten. Ich solle mich stattdessen auf mich selbst fokussieren.«

2019 beginnt zunächst recht erfolgreich mit der Veröffentlichung mehrerer Singles, die auf einem dritten Album mit dem Titel Sick erscheinen sollen. Zu den Co-Writern zählen große Namen wie Andrew Watt, Louis Bell, Ryan Tedder und Benny Blanco. Anfang 2020 erklärt Charlie jedoch in mehreren Tweets, dass er die Arbeit am Album einstellt. »Ich habe das Album geschmissen «, heißt es. »Die Musik hat sich nicht echt angefühlt – irgendwie nach dem Versuch, besonders cool zu klingen. Damit ist es wieder genau in die Richtung gegangen, von der ich eigentlich weg wollte: ich, der alleine in seinem Scheiß festsitzt und Beats bastelt.«

Charlie an seinem Arbeitsplatz (siehe Kasten »Studio-Equipment«)

Die kommenden zwei Jahre verbringt Charlie dennoch größtenteils weiterhin alleine »in seinem Scheiß«. Außer einer Neuauflage von I Hope mit Gabby Barrett – immerhin eine Nummer 3 in den US-Single-Charts – sowie etwas Schreib- und Produktionsarbeit für Justin Biebers Superhit Stay hört man wenig von ihm.

Zweifellos besitzt Charlie ein feines Gespür für zündende Hits. Sein Input in höchst erfolgreiche Produktionen beginnt 2015 mit drei Megahits in nur einem Jahr: Marvin Gaye (mit Meghan Trainor), See You Again (mit Wiz Khalifa) und One Call Away. Wenig später folgen We Don’t Talk Anymore (2016 mit Selena Gomez), Attention und How Long (beide 2017) sowie Done for Me (2018, featuring Kehlani). So richtig in Schwung kommen die Dinge aber erst nach Charlies heilsamen Elton-John-Erlebnis und ein paar weiteren, dramatischen Ereignissen: »Es gab seinerzeit zwei große Trennungen – eine private und eine berufliche«, erinnert sich Charlie. »In meiner Plattenfirma gab es zwei Personen, deren Feedback mir sehr viel bedeutete. Über sechs Jahre lang hatte ich mich auf deren Urteil verlassen, und nun stand ich alleine da – sehr irritierend. Ebenso verwunderte mich die Tatsache, dass sich die berufliche und die private Trennung so überraschend ähnlich anfühlten, obwohl sie rein gar nichts miteinander zu tun hatten.«

Katharsis und neue Wege

Nach diesen Verlusten sieht sich Charlie gezwungen, künftig auf eigenen Füßen zu stehen. Er denkt über ein Konzeptalbum »mit einer neuen Art von Songs« nach. Genau in diesem Moment schlägt die Pandemie zu: »Plötzlich war es nicht mehr möglich, ständig Leute zu treffen. Somit musste ich das Album alleine beginnen. Ich ertappte mich bei Selbstgesprächen, in denen ich mich mit meiner Gefühlswelt auseinandersetzte und mit Dingen beschäftigte, die ich niemals zuvor in eine musikalische Form gebracht hatte. Fast hätte ich das Album Conversations With Myself genannt. Allein in meinem Studio sah ich mich nun einer neuen und äußerst beunruhigenden Situation gegenüber: Ein paar meiner erfolgreichsten Songs, etwa We Don’t Talk Anymore und Attention, hatte ich direkt nach Auftritten geschrieben – also angefüllt mit der Energie des Augenblicks und der Interaktion mit dem Publikum. Und genau das war nun nicht mehr möglich! Zudem fehlte das Feedback meiner Kollegen, und Elton hatte mir so überaus feinfühlend seine Meinung über meine Musik kundgetan. Ich war also reichlich verunsichert und zweifelte an meinen Fähigkeiten. In meiner Not postete ich allen Ernstes ein Fragment von Light Switch auf TikTok und fragte, ob ein Song mit diesem Intro vielleicht gefallen könnte. Beim Hochladen der Song-Idee dachte ich mir: ›Ok, wenn ich 1.000 Views bekomme, mache ich den Song vielleicht fertig.‹ Und dann bekam ich an einem einzigen Abend an die 10 Millionen Views.«

Dieser TikTok-Test mit Light Switch passiert im September 2021. Er ist der Beginn einer Reihe weiterer Videos, die die Entwicklung des Songs und dessen Produktion dokumentieren. Mit der Ankündigung des Veröffentlichungsdatums bricht der wahre Run jedoch erst so richtig los. Für TikTok beginnt damit ein neues Zeitalter – die Phase, in der Songs schon vor ihrer Veröffentlichung viral werden.

Das absolute Gehör

Seitdem hat Charlie unzählige Videos gepostet, in denen er mit Pro Tools Song-Arrangements um einen mehr oder weniger beliebigen Sound erstellt. Die Sounds dazu erhält er vielfach von Fans. Mithilfe seines absoluten Gehörs identifiziert Charlie mühelos die richtige Tonhöhe eines Hundegebell-Samples und erzeugt dazu umgehend einen passenden Groove mit Bassline. Tatsächlich entstehen einige Album-Songs in Interaktion mit Charlies Fans: »Ich hatte Sehnsucht nach der Energie eines Publikums. Also holte ich sie mir über das Internet.«

In vielen seiner Online-Videos erkennt man Charlies absolutes Gehör und sein offenbar umfassendes Wissen der neueren Musikgeschichte – nach seinen Worten ermöglicht durch sein »fotografisches« Musikgedächtnis. Auf die Frage, ob sich diese Talente als hilfreich oder eher hinderlich erweisen, antwortet Charlie etwas ausholend: »Mein absolutes Gehör erlaubt es mir, Songs in meinem Kopf zu schreiben und sie dort auf unbestimmte Zeit zu speichern. Nach einer Weile lasse ich sie heraus und übertrage sie in meine DAW. Ich nehme quasi Stems aus meinem Gedächtnis und packe sie in Pro Tools. Ein absolutes Gehör macht solche Dinge einfacher. Notwendig für das Songwriting ist es jedoch nicht – eher eine angenehme und praktische Nebensache. Dagegen ist die Tatsache, dass ich nach dem einmaligen Hören niemals ein Stück Musik vergesse, ein echter Vorteil. Möglicherweise stehen beide Fähigkeiten im Zusammenhang. Sicher ist jedoch, dass ich in alltäglichen Dingen eine totale Null bin – ich kann nicht kochen, nicht ordentlich sauber machen – aber einen einmal gehörten Song nachspielen, das kann ich …«

Offenbar hält Charlie sein absolutes Gehör für weniger wichtig als sein fotografisches Musikgedächtnis: »Ohne Letzteres könnte ich keine Musik machen. Bei meinem Vorgängeralbum Voicenotes drehte sich vieles um die musikalische Vergangenheit – ganz besonders um diese spannende Phase vom Übergang der 80er- in die 90er-Jahre – mit Lisa Stansfields All Around the World und Johnny Hates Jazz, den immer fetter klingenden Drums und schließlich dem Siegeszug der Dancemusic. Voicenotes war eine tiefe Verbeugung vor dieser musikalischen Epoche.

Bei meinem aktuellen Album bin ich mir hinsichtlich des Genres gar nicht sicher. Meine Plattenfirma fragte, ›Ist das nun ein Rock-Album? Oder Pop?‹ Ich denke, es ist Pop geworden – einfach, weil alle zwölf Songs Bezüge zu meinen All-Time-Lieblings-Popsongs aufweisen.

Der Titel eines Songs ist nur in Ausnahmen die Inspirationsquelle. Irgendetwas muss ›klick‹ machen. Bei Attention hatte ich zuerst den Titel. Dazu stand fest, dass es 100 BPM sein müssen. Zudem kam mir der Bass von Luther Vandross Never Too Much (1981) in den Sinn. Der Titel Light Switch fiel mir beim Betrachten eines Lichtschalters ein. Daraus wurde schließlich dieser grenzwertig theatralische Song. Wahrscheinlich mache ich so etwas nie wieder, aber in diesem Moment war es genau das, was meinen Gefühlen entsprach. Der Song entstand übrigens zusammen mit Jake Torrey und Jacob Kasher.«

Synthies vs. Piano

Charlie nennt seine Gefühlswelt, Songtitel, neue und alte Musik sowie ungewöhnliche Sounds als Inspirationsquellen. Dank seiner pianistischen Fähigkeiten schreibt er gelegentlich Songs am Klavier. Allerdings hat er diese gute, alte Singer/Songwriter-Tradition erst recht spät für sich entdeckt.

»Ich spiele seit dem vierten Lebensjahr klassisches Klavier und weiß auch einiges über Musiktheorie. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass ich auch gute Popmusik schreiben kann. Ein guter Popsong darf vielleicht ein paar Ecken haben, muss dir jedoch erlauben, dich ganz hinein fallen zu lassen. Er darf deshalb nicht zu kompliziert sein. Packst du zu viel Wissen und Handwerk hinein, entsteht vielleicht eher ein Jazz-Stück. Laut Quincy Jones schadet es nicht, wenn du dich mit Jazz auskennst. Das gibt dir die Möglichkeit, auch in der Popmusik mit diesen Elementen zu spielen. In der US-amerikanischen Pop-Musik gibt es dafür viele gute Beispiele.

Meine beiden ersten Alben hatten rein gar nichts mit Klaviermusik zu tun. Anstatt die Songs zunächst am Piano zu skizzieren, startete ich gleich mit Synth-Sounds oder mit Geräuschen, die ich in instrumentenähnliche Klänge verwandelte – wie etwa Windgeräusche oder so etwas. Das mache ich zwar noch immer, starte jedoch mittlerweile gerne am Piano. Mit diesem neuen Workflow bin ich sehr glücklich. Immerhin entspricht er der Entstehungsweise vieler toller Klassiker, darunter etwa Carole Kings Tapestry (1971). Das ist eine meiner absoluten Lieblingsplatten! All diese Wahnsinns-Songs von I Feel The Earth Move bis hin zu (You Make Me Feel Like) A Natural Woman starten mit dem Piano. Es fühlt sich super an, ebenfalls so zu arbeiten – auch wenn ich natürlich mein Album nicht mit Tapestry vergleichen kann und will.«

»Da habe ich es wohl etwas übertrieben. Niemand braucht 27 Synthesizer, um Musik zu machen. Allerdings mag ich Hardware-Synths …«

Wenn auch Songwriting am Klavier für Charlie mittlerweile sehr interessant geworden ist, sieht er das Tonstudio weiterhin als sein wichtigstes Instrument. Als Sohn einer Musiklehrerin hatte er schon früh Zugang zu Musik und erspielte sich mit Cover-Songs sein erstes Publikum als Sänger und Pianist. 2013 schließt Charlie sein Studium in Musikproduktion und Engineering am Berklee College of Music in Boston ab. Seitdem ist Musikproduktion sein Lebensinhalt.

Es existieren zahlreiche Online-Videos, in denen Charlie sein Studio vorführt. Allerdings sind diese Videos nicht mehr aktuell. Sein Equipment hat sich seitdem signifikant verändert. Zurzeit beherbergt sein Studio in LA je einen Apple Mac Pro und ein MacBook Pro M1 Max mit Pro Tools, dazu Apogee Symphonic-Interfaces, zwei UAD Octos, ATC SCM45A-Monitore mit Subwoofer, ein paar Yamaha NS-10 und einen Dangerous Monitor-Controller sowie Shure SM7- und Neumann U47-Mikros. Zum Outboard zählen UA Blackface 1176-Kompressor, Neve Shelford und 88R Kanalzüge, Chandler Limited TG2 Pro-Amp (für Synths), ein Akai MPK 61 MIDI-Controller sowie nicht weniger als 27 Synthesizer …

»Angefangen habe ich mit KRK-Monitoren, danach kamen Focals. Auf denen habe ich Attention gemixt. Manny (Marroquin) hat meinen Sound auf ein neues Level gebracht. Er schafft es, nicht nur den Klang zu verbessern, er bringt auch das Feeling des Songs noch mehr in den Vordergrund. Ich checke meine Mixe mit Sennheiser HD 650 und Bose QuietComforts gegen. Wenn ich Referenzmixe erhalte, höre ich sie über die Bose. Mit ihrer 8-kHz-Betonung entsprechen sie am ehestem der üblichen Abhörsituation anderer Leute.

Die NS-10 haben für mich etwas Magisches – ich lasse alles über sie laufen. Üblicherweise mixe ich bei niedrigen Lautstärken und höre dann sehr laut im Auto gegen. Den 1176 und den Chandler habe ich, weil auch Max Martin beide in seinem Main-Room nutzt. Eigentlich bin ich nicht so technisch versiert, wie es vielleicht den Anschein hat. Die Idee ist immer das Wichtigste – sie gilt es herauszuarbeiten. Wenn ich an gefühlvollen Songs arbeite, schätze ich eine gewisse Intimität in meinem Studio und bin deshalb dort gerne alleine. In anderen Studios ist mein Engineer Ben Sedano mit dabei.«

Ausdrucksstarke Sounds

Wie war das doch gleich mit den 27 Keyboards, Herr Puth »Da habe ich es wohl etwas übertrieben. Niemand braucht 27 Synthesizer, um Musik zu machen. Allerdings mag ich Hardware-Synths – nicht nur weil ich sie gerne sammel, sondern vor allem wegen ihrer Unberechenbarkeit, die ich bei modernen Synths vermisse. Der Oberheim oder der Prophet verstimmen sich immer wieder, und mein Roland Juno will manchmal einfach nicht. Ich versuche, diese Unberechenbarkeit so weit wie nur möglich in meine Musik einfließen zu lassen. Einige Synths haben zwar MIDI, allerdings spiele ich lieber Audiofiles von Hand ein. Max Martin empfahl mir, Audio aufzunehmen. Und wenn es scheiße klingt, taugt es vielleicht immer noch für ein paar coole Artefakte.

Ich verwende natürlich auch Softsynths. Arcade von Output hat sehr brauchbare Sounds und ist wirklich dicht am echten Vintage-Klang. An reFX Nexus mag ich das 2010er-Feeling. Softsynths verpacke ich gerne in Layers und unterstütze damit andere Instrumente. Bezüglich Layering fühle ich mich von David Foster inspiriert – er ist der Layer-König! Hör dir einmal Celine Dions All By Myself von 1996 an. Im letzten Chorus stecken ungefähr einhundert Layers, die du gar nicht einzeln wahrnimmst – mutest du dagegen auch nur einen, fehlt etwas.

Dennoch starte ich Songs meist mit einem einzelnen, ausdrucksstarken Sound, üblicherweise von nur einem Synth oder mit einem einzelnen Sample erzeugt. Innerhalb von ein paar Tagen überlege ich dann, wie ich diesen Sound interessanter gestalten kann. Bei See You Again hatten wir die Akkordfolge und ein Sample. Dann packten wir Layer auf Layer, aber es führte zu nichts. Es klang toll, aber es ergab keinen Song. Nach einer Stunde Layering markierten wir alles in Pro Tools und drückten den Delete-Button. Schließlich spielten wir mit einem Native Instruments ›Alicia Keys Piano‹-Sample einfach die Melodie, die du hörst, und ich sang dazu.«

Trotz der vielen Synths in seinem Studio beginnt Charlie seine Kompositionen auch gerne am Piano.

Die Plattenfirma hat dem Album zunächst etwas ratlos gegenübergestanden, entspricht doch Charlie so gar nicht den aktuellen Trends: Es gibt weder 808, noch Rapoder Trap-Einflüsse. Einzig die Song-Längen von maximal drei Minuten passen in die Hörgewohnheiten der TikTok-Generation. Feeling, Sounds und Arrangements sind dagegen stark von den 80ern geprägt. Man findet reichlich Synths, rockige Drums, Basslines und stark verzerrte Rhythmus-Gitarren.

»Ich mag Power-Drums,« erklärt Charlie. »denn ich stehe auf Songs wie Easy Lover (1984) von Phil Collins und Philip Bailey. Auch in The Air Tonight (1981) ist ein weiteres Beispiel für diese seinerzeit total neuen »Inyour-face«-Drums. Phil Collins hat mich sehr beeinflusst.

Bekanntermaßen habe ich über die Hip-Hop-Produktion ins Musik-Business gefunden. Das funktionierte wahrscheinlich deshalb, weil ich unkonventionelle Wege verfolge und kein Drummer bin. Anstelle einer Snare Drum schnappe ich mir ein beliebiges Sample aus meiner Library, verdrehe es bis zur völligen Unkenntlichkeit und nutze es dann vielleicht als Noise hinter einem Attack-Sound. Ich versuche, interessante Sounds zu entwickeln, die noch niemand zuvor verwendet hat.

Drumsounds importiere ich in Native Instruments Kontakt und lege sie auf das Keyboard. Wichtige Drum-Parts spiele ich immer von Hand ein. Nur kleinere Korrekturen erledige ich mit der Maus. Auch wenn ich quantisiere, machen die handgespielten Velocities einen Unterschied zu Beats, die via Drag&Drop im Editor gesetzt werden.«

Tools und Know-how

Charlie arbeitet regelmäßig mit dem Gitarristen Jan Ozveren. »Er hat es nicht immer leicht, wenn er meine Klavier-Parts auf der Gitarre umsetzt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb er nun in seinem eigenen Studio aufnimmt. Wir sind dann via FaceTime verbunden.

Vocals nehme ich hier in meinem Studio auf. In all meinen Hits stecken noch immer die Demo-Vocals – völlig verrückt! Mit neu aufgenommenen Vocals war ich nie zufrieden. Selbst wenn im Hintergrund die Klimaanlage rauscht – und das tut sie in L.A. meistens – bleibe ich bei meinen Demo-Vocals. Ich bearbeite sie mit Autotune, Kompression und EQ. Wegen Autotune mache ich mir mittlerweile keinen Kopf mehr. Ich denke dann an John Lennon, der seine Vocals in Delays ertränkt hat, weil er seiner Stimme nicht vertraute.

In der Vocal-Plug-in-Kette sitzt an erster Stelle der Waves NS1 Noise Supressor, um die Klimaanlage loszuwerden. Dann folgen die UAD Pultec-Sachen. Im Originalhandbuch wird davon abgeraten, gleichzeitig den Eingang auf- und den Ausgang runterzudrehen. Aber genau das tut man – und es klingt super! Die UAD-Sachen sind wirklich gut – so gut, dass ich mich manchmal frage, warum ich eigentlich die originalen Teile gekauft habe. Ich mag auch die Plug-ins von FabFilter und Soundtoys sowie den SoundRadix Surfer EQ. Das ist ein automatischer EQ, der genau so klingt, wie er heißt. Meine Lieblings-Reverbs sind die tollen Valhalla Plug-ins und der LiquidSonics Seventh Heaven, eine Emulation des Bricasti M7.«

Die Ausbildung am Berklee College of Music ist Charlies Fähigkeiten zweifellos zugutegekommen. Er relativiert diesen Aspekt jedoch etwas: »Sicher bin ich technisch besser geworden – allein schon durch die ständige Übung. Wenn ich jedoch zu viel über die Produktion nachdenke, leidet dabei meist der Song. Ich habe mir angewöhnt, meine Songs nicht mehr zu sehr am aktuellen Radiosound und den Hörgewohnheiten zu orientieren. Bei meinem aktuellen Album stehen ganz klar meine Gefühle an erster Stelle.

Ab einem bestimmten Punkt hat mich die Plattenfirma in meinem Vorhaben unterstützt, nicht nur Singles zu produzieren, sondern eine Art Gesamtwerk zu schaffen. Ich wollte das eigentlich schon immer und bekam auch viel Zuspruch, aber letztlich ging es am Ende des Tages doch wieder darum, einen weiteren Hit rauszubringen. Mag sein, dass die Leute momentan lieber einzelne Songs hören, aber ich bin überzeugt, dass das Album noch längst nicht tot ist!«

The Making of Charlie

»Auch wenn der Test mit dem TikTok-Video zwar dazugehörte, habe ich diesen Song ausschließlich für mich selbst gemacht. Er beschreibt, was mit mir passiert, wenn ich zu viel Kaffee trinke, ins Bett gehe und dann nicht schlafen kann, weil zu viel in meinem Kopf kreist. Der Klang meines hyperaktiven Gehirns wird von den überlauten Gitarren-Sounds symbolisiert, die den Pre-Chorus einleiten. Die superlauten Fake-Gitarren entstammen dem Yamaha Motif ES7. Ich layerte sie mit echten Gitarren. Für die Strophen habe ich mich von den chromatischen Tonfolgen eines Kurt-Cobain-Songs und vom Legato-Bass aus Californiacation von den Red Hot Chili Peppers inspirieren lassen. Strophen und Chorus unterscheiden sich stark. Ich dachte mir, dass die lauten Gitarren in einem Song mit dem Titel Charlie Be Quiet einen schönen Überraschungseffekt erzeugen würden. Eine weitere Inspiration kam von einem Song der 100 Gecs (Duo mit Laura Des und Dylan Brady). Das ist total irrer Hyper-Pop, und ich wollte eine Prise davon in meinem Song – in Form dieser sehr räumlichen, aber knalligen Snare Drum.«

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