von André Zacher, Diplom-Toningenieur VDT, Artikel aus dem Archiv
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Recording und Mikrofonierung beim Dreh der Musik-Dokumentation „Dragonsongs“, einem Film über den chinesischen Weltklasse-Pianisten Lang Lang, der auch als DVD bei der Deutschen Grammophon erscheint.
Wenn der Pianist Lang Lang spielt, toben weltweit, vor allem auch in China, die Massen. Bodyguards schützen ihn auf dem Weg von seiner Limousine in die Konzerthalle, Jugendliche kreischen bei seiner Ankunft am Flughafen, er gibt stundenlange Autogrammstunden; seine Geschichte entspricht dem Traum von 38 Millionen Klavier lernenden chinesischen Kindern: Aus der Provinz Shenyang schaffte er den Sprung auf die großen Bühnen der Welt, im Alter von 23 Jahren ist er einer der Superstars der klassischen Musik. Umschwärmt und geliebt von Publikum und Kritikern gleichermaßen. Loft Music GmbH und Nightfrog GmbH produzieren die Musik-Dokumentation „Dragonsongs” (Regie: Benedict Mirow), einen Film über Lang Lang, der auch als DVD bei der Deutschen Grammophon erscheinen wird.
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Mitte Dezember 2005 begannen die Dreharbeiten: Es bestand die Idee, den chinesischen Superstar auf seiner großen China-Tour zu begleiten. Höhepunkt und Ende der Aufnahmen waren exklusive Aufzeichnungen für „Dragonsongs” mit traditioneller chinesischer Musik im Konservatorium von Beijing Mitte Januar 2006. Das Team begleitete ihn Mitte Dezember 2005 bis Anfang Januar 2006 dokumentarisch auf seiner Tournee durch sechs chinesische Städte (Beijing, Shenzen, Shenyang, Guangzhou, Zhongshan, Shanghai), wo es den Star auch abseits der großen Presse-Events und Konzertpodien er lebte. Der Schwerpunkt sollte hier keinesfalls auf Mitschnitten seiner Konzerte liegen, sondern eher auf Lang Lang als Mensch, z. B. bei seiner Familie zu Hause in Shenyang oder in der Hotel-Suite, beim Einkauf auf der Straße oder dem Besuch im Buddha-Tempel, in der Limousine auf dem Weg zum Konzert oder Backstage im VIP-Raum.
Entscheidung für Surround
Die exklusive Aufnahme mit traditioneller chinesischer Musik im Januar 2006 fand in diskretem 5.1 Surround Sound durch die Deutsche Grammophon (Balance Engineer: Stephan Flock) statt.Vier Kameras (HD-Cam, u. a. auch Kamera-Kran und Dolly) waren gleichzeitig im Einsatz. Schon vor Beginn der dokumentarischen Dreharbeiten im Dezember stand fest, dass „Dragonsongs” zumindest für die DVD der Deutschen Grammophon (Fertigstellung geplant Herbst 2006) – und eventuell sogar für eine Kino- Auswertung – produziert werden sollte: Endformat der Tonspur des Films wird also in jedem Fall eine diskrete sechskanalige Surround- Mischung.
Deshalb war es die Idee, den gesamten dokumentarischen Teil – die Reise mit Lang Lang durch China während seiner Tournee – ebenfalls in Surround zu produzieren, d. h. den gesamten Originalton mit einem diskreten Mehrkanalverfahren aufzuzeichnen. Dies alles aber trotzdem unter den geläufigen Originalton-Drehbedingungen beim Dokumentarfilm: nur ein Tonmeister mit mobilem Aufnahmegerät, Angel und diversen Drahtlosstrecken.
Warum Doppel-MS-Mikrofonierung?
Als Mikrofonierung, mit der man so an der Angel arbeiten kann, kam eine Schoeps Doppel- MS-Anordnung (DMS) in Frage. Diese kann nämlich durch ihre Koinzidenz und durch die Verwendung der äußerst kleinen, aber in puncto Klangqualität kompromisslosen Mikrofone der Schoeps-CCM-Serie so kompakt und leicht zusammengestellt werden, dass sie mit einer herkömmlichen Rycote- Halterung in einen Windkorb passt und zudem noch gut an der Angel zu halten ist. „Doppel-MS“ erhält man durch die Erweiterung der bekannten MS-Stereotechnik um ein zusätzliches Mikrofon. Zu der MS-Stereoanordnung für vorne (Front), bestehend aus einer Niere oder Superniere für das Mitten- und einer Acht für das Seitensignal, kommt eine weitere Niere, die nach hinten gerichtet zusammen mit der vorhandenen Acht ein zweites Stereosystem darstellt (Rear). Den Center-Kanal erhält man direkt durch das Mittenmikrofon des nach vorne gerichteten Systems. Ein solches Doppel- MS-System gestattet die bekannten Einstellund Nachbearbeitungsmöglichkeiten der Zweikanal-MS-Technik. Es werden bei der Aufnahme also nur drei Kanäle benötigt: ein weiterer Vorteil, wenn man durch ein mobiles Aufnahmegerät ohnehin nur wenige Spuren zur Verfügung hat.
Zwei verschiedene Doppel-MS-Setups
Um in jedem Fall ein zu einer Mono-Produktion vergleichbares präsentes Mittensignal zu bekommen, war die Verwendung eines Richtrohrs Grundvoraussetzung. Dazu kam das neue Schoeps Richtrohr CMIT5U zum Einsatz. Dieses neue Mikrofon kombiniert eine große, aber nicht zu scharfe Richtwirkung mit einer ungewöhnlich ausgeglichenen und angenehmen Klangfarbe. Diese Eigenschaft des CMIT ermöglichte es dem Tonmeister, das Richtrohr auch in Innenräumen einzusetzen, in denen er üblicherweise die Schoeps-Superniere MK/CCM 41 einsetzt. Die Klangfarbe der Off-axis-Sounds ist angenehm und entschuldigt die unvermeidbaren kleinen Ungenauigkeiten beim Ausrichten des Richtrohrs auf der Angel. Das geringe Gewicht des CMIT ist vorteilhaft und war insbesondere im Doppel-MS-Setup willkommen. Das CMIT hat drei Druckknöpfe, die Höhenanhebung, LF Roll-off und Nahbesprechungskompensation anbieten. Diese Features wurden manchmal benutzt, um sich der jeweiligen Dreh-Situation optimal anzupassen, wenn zum Beispiel mit der Angel gerannt werden musste, verhinderte ein einfaches Drücken des LF-Roll-off-Tasters die Körperschallgeräusche durch die Angel. Außerdem wurde die Höhenanhebung häufig benutzt, um den Höhenverlust durch den Windkorb oder größere Quellenabstände zu kompensieren. Die drei Status-LEDs am CMIT ermöglichten immer einen schnellen Überblick über den gewählten Status der Filter.
Mit Halterungen von Schoeps wurden für die weiteren benötigten Signale für Doppel-MS am CMIT5U noch ein CCM8Lg (Seitensignal) und ein nach hinten gerichtetes CCM4Lg (Rear-Signal) koinzident befestigt. Die Signale der drei Kapseln wurden durch eine kleine, fest am Shockmount montierte Adapter-Box über ein siebenpoliges XLR-Kabel aus dem Korb herausgeführt und erst direkt am Aufnahmegerät wieder auf drei einzelne, dreipolige XLRs aufgesplittet. Wie bei allen Arbeiten des Tonmeisters verbesserte man die Isolation des Setups gegen Angel- Griffgeräusche durch die zusätzliche Verwendung des „Floaters” von Ambient Recording direkt unter dem Korb.
Durch die Verwendung dieses extrem leichten, mobilen und flexiblen Surround-Setups, das sowohl bei Außen- als auch Innenmotiven hervorragend funktionierte, waren sehr schnelle Motivwechsel ohne jeglichen Umbau möglich. Außerdem konnte stets perspektivisch – d. h. mit identischem Blickwinkel wie die Kamera – gearbeitet werden, auch bei Kamerafahrten oder -schwenks (z. B. Handkamera- Fahrt mit Lang Lang durchs Flughafenterminal). Dadurch werden im Film vor allem Szenen in akustisch interessanter und belebter Umgebung (z. B. Flughäfen, Straßen, Märkte, Hotelfoyers, Konzerthallen, Backstage etc.) äußerst authentisch und lebendig wiedergegeben, der Zuschauer fühlt sich tatsächlich an den Ort des Geschehens versetzt. Natürlich wurden auch statische Atmos mit demselben Equipment aufgezeichnet, wenn die subjektive Perspektive zu nervös war oder nicht in die Szene passte. Durch die gute Richtwirkung des CMIT5U konnte beim Angeln der Fokus bei Bedarf auf das Frontsignal (z. B. Dialog) erhöht werden. So kann über die Gewichtung der einzelnen Komponenten des Surround-Setups in verschiedenen Szenen noch in der Post- Production entschieden werden, z. B. die Präsenz des Mittensignals, der Diffus/Atmo- Anteil, die Links/Rechts- oder Vorne/Hinten- Balance. Erst dort werden die drei Kanäle zu einem 5.1-Signal dematriziert und in der Mischung weiterverwertet.
Sämtliche Nurtöne und Atmo-Aufnahmen konnten mit der mobilen Angel-Anordnung ebenfalls in Doppel-MS aufgezeichnet werden und bieten eine extrem realitätsnahe und authentische Grundlage für die mehrkanalige Vertonung des Films, zumal China diesbezüglich eine riesige Vielfalt und Exotik zu bieten hatte.
Zusätzlich zur Anordnung an der Angel wurde ein weiteres Doppel-MS-Set benutzt, das bei statischen Aufnahmen (z. B. während Lang Langs Konzerten oder Probe-Sessions) auf einem Stativ als Hauptanordnung zum Einsatz kam. Es bestand aus der konventionellen Schoeps-Doppel-MS-Anordnung (WSR DMS LU) und drei Schoeps-Kompaktmikrofonen (2 × CCM 4V Lg für Frontund Rear-Signal, CCM8Lg für das Seitensignal). Dieses Setup ermöglichte eine flexible und unauffällige Art, Musik sowie Atmo aufzunehmen und – da es ebenfalls eine Doppel- MS-Anordnung war – war es natürlich ein idealer Partner für das besprochene CMIT-System. Bei sehr schnellen Szenen (z. B. einer Kamerafahrt hinter der Bühne mit Lang Lang bis zum Auftritt und Beginn des Konzerts), in denen zuerst das Angel-Surround-Signal hinter der Bühne und dann sofort das Stativ- Surround-Signal auf der Bühne benötigt wurde, musste nur das entsprechende siebenpolige XLR-Kabel on-the-fly beim Auftritt im richtigen Moment am Recorder umgesteckt werden.
Grenzflächen als Stereo- Stütze für Flügel
Als Stereo-Stütze in Szenen mit Lang Lang am Flügel (z. B. im Proberaum, im Backstage- Raum, bei Generalproben oder Konzerten) kamen zusätzlich zur Surround- Hauptanordnung Klein-Grenzflächenkapseln des Typs BLM03Cg (mit CMC6-Mikrofonverstärkern) von Schoeps zum Einsatz, um die Präsenz des Flügels in der Post-Production bei Bedarf noch anheben zu können. Sie befanden sich stets für die Kamera unsichtbar unter oder im Flügel angebracht.
Team Dokumentarfilm
Produzent (Producer): Dr. Manfred Frei
Regie (Director): Benedict Mirow
Produktionsleitung (Production Manager): Marc Schmidt
Produktions-Assistenz (Assistant Producer): Aleksandra Krneta
Motiv-Aufnahmeleitung (Location Manager): Michael Arri
Kamera (Director of Photography): Atul Rahul Jain
Kamera (Director of Photography): Christian Baumeister
Kameraassistenz (Assistant Camera): Matthias Boch
Tonmeister (Production Sound Mixer): André Zacher
Aufnahmegerät und Peripherie
Als Mischpult und Aufnahmegerät in Kombination kam beim dokumentarischen Dreh der portable Recorder Cantar X von Aaton (fünf gespeiste Mikrofoneingänge mit Limitern, vier Line-Eingänge, sechs Aufnahmespuren) zum Einsatz. Auch auf Grund seines äußerst niedrigen Energieverbrauchs eignete er sich besonders gut für die langen Arbeitstage. Mit einem Satz Akkus (2 × NiMH), die gleichzeitig am Gerät betrieben wurden, kam man sehr gut über einen langen Drehtag. Ein Akku hält durchschnittlich bis zu sieben Stunden, d. h. selbst wenn das Gerät bei den Dreharbeiten am Stück 14 Stunden angeschaltet blieb, war es nicht notwendig, die Akkus zu wechseln. Durch den parallelen Einsatz von jeweils zwei Akkus – das Gerät lässt sich wahlweise gleichzeitig durch beide oder einen bestimmten speisen – ist es beim Wechseln nur eines der beiden Akkus auch nicht notwendig, den Cantar X auszuschalten, dies konnte sogar während einer Konzertaufzeichnung geschehen.
Das Doppel-MS-Signal der Angel (bzw. der festen DMS-Anordnung auf dem Stativ) wurde auf den ersten drei Spuren des Cantar aufgezeichnet. Bei Einsatz der Flügel-Grenzflächen wurden immer die Spuren 4 und 5 verwendet, auf Spur 6 landete gegebenenfalls ein Anstecker-Mikrofonsignal (z. B. Lang Lang), das mit einer Lectrosonics Digital Hybrid-Drahtlosanlage (Lectrosonics UCR511 + UM500) übertragen wurde. Diese konsequente Spurbelegung über den gesamten Dreh ermöglicht die reibungslose Weiterverarbeitung in der Post-Production. Ein Downmix der bis zu sechs Kanäle – zumeist das Mittensignal der Angel und/oder das Signal des Ansteck-Mikrofons – wurde über die separate Fader-Sektion des Cantar X hergestellt und als Guide-Track und gleichzeitige Abhörmöglichkeit für die Kameraleute mit Hilfe von Lectrosonics-IFB-Anlagen (Lectrosonics IFB T6 und R5A) drahtlos zu den Kameras übertragen und dort aufgezeichnet.
Die Synchronität von Ton und Bild sowie auch die Video-Synchronisation zwischen den beiden zum Teil gleichzeitig eingesetzten Kameras (Sony HDW-750 HD-Cam) wurden durch Verwendung von Ambient Trilevel-Lockits gewährleistet. Der exakt gleiche Free-Run-Timecode der untereinander synchron und sehr stabil laufenden Lockit-Timecode- und Videoclockgeber wurde parallel von Cantar X und den Kameras aufgezeichnet, Voraussetzung für eine automatisierte Zusammenführung und Synchronisation von Ton- und Bildmaterial in der Post-Production.
Der Cantar X zeichnete stets mit einem 10-sekündigen Pre-Record-Buffer auf. Das hatte den Vorteil, dass zum einen einige spontane Momente trotz zu späten Einschaltens noch „mit auf die Platte” kamen, zum anderen zu jedem gedrehten Bild ein Ton-File mit Vorlauf und auch dem entsprechenden TC-Vorlauf existierte, was das Anlegen am Avid-Editingsystem sehr erleichtert.
Fazit
Originalton in Surround und insbesondere die Verwendung des Doppel-MS-Systems haben sich bei diesem dokumentarischen Projekt sehr bewährt. Durch die zusätzlichen Rauminformationen und die damit verbundene große Klangfülle und -vielfalt des Originaltons wurden die Aufnahmen authentischer, realistischer und damit letztendlich auch dokumentarischer. Sei es bei den Konzerten mit viel Publikum oder Proben Lang Langs mit Heerscharen von Journalisten am Flügel, Backstage oder im Hotel etc., stets sorgte eine interessante Geräuschkulisse für Neugier, was auf dem Rear-Kanal passiert, und für Bestätigung, dass ein Surround-Aufnahmeverfahren sich hier lohnte.