Interview mit Klanghelm-Plug-in-Entwickler Tony Frenzel
von Nicolay Ketterer,
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Tony Frenzel entwickelt seit 2011 kommerziell Plug-ins. Mit dem MJUC – einem vielseitigen Vari-Mu-Kompressor – gelang ihm 2015 ein nachhaltiger Erfolg. Im Interview erzählt er am Beispiel des Kompressors, wie er ein hochwertiges Plug-in entwickelt – und warum er sich für ein Preismodell entschieden hat, zu dem sich praktisch jeder seine Plug-ins leisten kann.
Besonders günstige oder gar Freeware-Audio-Plug-ins existieren seit der Verbreitung der VST-Schnittstelle unzählige. Wirklich etabliert haben sich vor allem größere Hersteller wie Waves, Universal Audio oder Sonnox. Eine populäre Ausnahme: Die äußerst erschwinglichen Plug-ins der Ein-Mann-Firma Klanghelm aus Berlin von Entwickler Tony Frenzel erfreuen sich seit Jahren ungebrochener Beliebtheit. Vor allem der vielseitige Kompressor MJUC im Stil von Vari-Mu-Schaltungen überzeugt durch gelungene Klangqualität, bei einem Preis von gerade mal 24 Euro. Wie schafft es Frenzel, ein Plug-in zu liefern, dass sich qualitativ von vielen der großen Anbieter positiv abhebt?
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»Basteln« an Schaltungen habe ihn immer gereizt, Löten sei allerdings nie wirklich »sein Ding« gewesen, so Frenzel im Gespräch. Da kamen ihm Software und DSPs gelegen. »Wirklich los ging es, als Steinberg das erste VST-SDK [Software Development Kit; Anm.d.Aut.] auf den Markt brachte. Ich hatte einen Programmierhintergrund und spielte damit herum. So ging das viele Jahre – ich bastelte kleine Utility-Plug-ins, die ich selbst brauchte«, erinnert er sich. »Richtig los ging es 2011, als ich das VUMT-Plug-in programmiert hatte [ein virtueller VU-Meter mit Messfunktionen; Anm.d.Aut.]. Entsprechendes fand ich nicht am Markt – mir gefiel das Ergebnis so gut, dass ich es als Testballon veröffentlichte. Danach ging es weiter.«
Der Durchbruch war erwähnte MJUC-Kompressor, der sich unter anderem am Fairchild-Konzept orientiert und einen Retro 176-Kompressor mit zusätzlichen Klanghelm-Meilenstein: der MJUC-Kompressor, hier im ersten Kompressor-Modus als erweitertes Fairchild-Modell Möglichkeiten emuliert sowie eine eigene Variante bietet, so Frenzel. »Auf das Plug-in bin ich am meisten stolz. Es ist auch das einzige, mit dem ich seit der ersten Version nach wie vor zufrieden bin und kein großes Verbesserungspotenzial sehe. «
Das Retro-Exemplar besitzt er als Hardware. »Das war die Initialzündung. Einen Kompressor in ein Plug-in zu packen, schien mir etwas wenig. Daher schaute ich, welche Vari-Mu-Kompressoren noch existieren, wie die Topologie [die Kompression wird im Schaltkreis durch konstante Anpassung der Spannung an der Hauptröhre erreicht, wodurch diese ihren Pegel und damit das Kompressionsverhalten ändert; Anm.d.Aut.] entstand. Dazu lieh ich mir Gerätschaften, um sie zu analysieren und zu schauen, wie sich das in Plug-in-Form umsetzen lässt.«
Welche Probleme treten bei der Übersetzung auf, um das Reaktionsverhalten und die analoge »Bandbreite « eines Geräts möglichst originalgetreu in Software zu übersetzen? »Nach wie vor stellt Rechenleistung eine Hürde dar. Das Problem besteht darin, sich auf wesentliche Bestandteile zu beschränken, und nicht jedes Mini-Detail zu modellieren – auch wenn das von Herstellern suggeriert wird. Dann würde ein Plug-in auf keinem Rechner der Welt laufen. Ein großes Problem ist meiner Meinung nach Geduld – dazu kommt, dass viele Hörtests stattfinden müssen. Das macht viel mehr Arbeit als das Programmieren.« Er entschied sich, die einzelnen Kompressor-Bauteile in der Programmierung zu simulieren. »Das macht mich flexibel, damit kann ich kreativ arbeiten. Letztlich sehe ich das Thema als Kunstform an.«
Wie er die eigene Programmierung angeht? »Dadurch, dass ich mir viel Zeit für meine Plug-ins nehme – eher Jahre als Monate –, erforsche ich immer unterschiedliche Ansätze. Wenn ich eine Idee für etwas Neues habe, taste ich mich durch Hören heran, höre darüber viel Musik und erkundige mich in Foren, wie Leute den Sound beschreiben und empfinden. Dann nehme ich mir das Gerät vor und überlege, was für mich die Besonderheit ausmacht. Ich versuche zunächst, so naiv und einfach wie möglich heranzugehen, und schaue, wie weit ich mit einem ›untechnischen‹ Ansatz komme.«
Gratwanderung
Viele Plug-ins »schlucken« Transienten oder geben das Impulsverhalten, verglichen mit gelungener Hardware, reduziert wieder. Bei MJUC bleibt hingegen viel Feindynamik erhalten. »Das ist ein schmaler Grat: Analoge Hardware, dezent eingesetzt, arbeitet eigentlich sehr subtil. Damit ein Plug-in am Markt funktioniert und auch verkauft werden kann, muss es etwas Offensichtliches machen. Der Nutzer möchte, dass ein Plug-in einen deutlichen hörbaren Effekt hat.«
Wo er die Grenze zieht, was Detailtreue und Lauffähigkeit auf einem System angeht? »Das ist ein Abwägen – bestimmte Prozesse umgehe oder vereinfache ich und vergleiche, ob das Ergebnis klanglich noch sinnvoll funktioniert. Dazu gehört die Überlegung: Um welchen Effekt geht es? Bei einem Equalizer sollten meiner Meinung nach mehr Instanzen möglich sein als bei einem Vari-Mu-Kompressor, der vermutlich nicht auf jedem Kanal eingesetzt wird.« Inwiefern das Oversampling, sprich das interne Hochsampeln, der Auflösung des Materials im Plug-in – im HQ-Modus bessere Qualität verspricht? »Das Modell kann durch die höhere Sampling-Rate genauer berechnet werden, weil mehr Signalinformationen zur Verarbeitung vermittelt werden. Der Hauptgrund besteht allerdings daran, dass das Aliasing reduziert wird.«
»Kritisches« Audiomaterial zum Testen
Ob durch das Nachbauen unterschiedlicher Bauteile einer Schaltung kein »Flaschenhals-Effekt« entsteht – indem bei jedem virtuellen Bauteil Signalanteile verloren gehen und sich der Effekt addiert, sodass die Detailtreue des großen Ganzen leidet? »Wenn ich mir überlege, wozu das jeweilige Bauteil oder der kleine Schaltungskomplex dient, und auch eine Vorstellung davon habe, wie die einzelnen Komplexe miteinander interagieren, erscheint mir das weniger als Problem. Was eher problematisch ist: Wenn ich einen Schaltkreis diskreditiere, also aus einem tatsächlichen Schaltplan einen virtuellen bastele und mir das Ergebnis anhöre, ist das oft noch nicht nah genug dran. Anschließend ist immer sehr viel Feintuning notwendig. Viel hören und das Plug-in selbst verwenden ist – wie bereits erwähnt – das Wichtigste.« Dabei sei es zum Testen am sinnvollsten, »problematisches« Audiomaterial zu verwenden, erzählt Frenzel – das lege Fehler schneller offen. »Im Laufe der Jahre konnte ich durch Kunden eine gute Sammlung an Material zusammentragen. Wenn jemand Probleme hatte oder einen Bug meldete, frage ich gerne nach einem Audio-Clip, um den Fehler nachvollziehen zu können. Diese Clips verwende ich gerne zum Testen, da das oft Extremsituationen sind: Material mit viel Pegel, verzerrte Signale oder Sounds mit vielen unharmonischen Artefakten.«
Erweiterte Emulationen
Frenzel meint, er wolle nicht bloß emulieren, sondern Funktionen bieten, die in der Hardwarewelt so nicht vorhanden sind. Der MJUC besitzt beispielsweise drei umschaltbare Oberflächen mit den erwähnten Kompressor-Modi. »Der erste Modus kommt einem Fairchild am nächsten. Ich habe nie mit einem analogen gearbeitet, allerdings hat das, was ich an Plug-ins kannte, für mich musikalisch nie richtig funktioniert. Die Zeitkonstanten erschienen mir etwas zu lang, passten für Rockmusik nicht wirklich. Die Idee nahm ich auf und wollte sie so verändern, dass die Kompression auch für schnelleres Audiomaterial funktioniert. « Zusätzlich ist eine zweite Ebene mit Feintuning-Optionen wie Timbre, Sidechain-Filter oder Regler für Parallelkompression aufrufbar. Die Gain-Reduktion der Kompression wird auf Wunsch automatisch am Ausgang ausgeglichen, sodass nicht nachjustiert werden muss.
Der zweite Modus emuliert einen Retro 176-Kompressor, allerdings ebenfalls mit den zusätzlichen Funktionen wie Parallel-Kompression, Timbre sowie weitere Gain-Stage-Modi.
»Der dritte Kompressor ist halbwegs mein eigenes Design – er hat teilweise etwas mit dem Manley Vari-Mu gemeinsam, ist klanglich allerdings nah an einem SSL-Bus-Kompressor. Das ist praktisch ein Unfall, der mir allerdings gefiel, und der das gesamte Kompressoren-Paket noch flexibler gestaltet, daher beließ ich es so.«
Günstiger Preis als Kaufanreiz
Sein Preismodell, das MJUC-Plug-in lediglich für überschaubare 24 Euro anzubieten, fällt auf. Nur wenige Hersteller wagen die Kalkulation, im Nischenmarkt der Plug-ins über besonders günstige Preise entsprechend mehr Lizenzen zu verkaufen und dadurch Entwicklungskosten und Arbeitszeit zu refinanzieren. Auch dürften bei größeren Herstellern andere wirtschaftliche Zwänge herrschen. Durch den günstigen Preis solle sich jeder die Plug-ins auch wirklich leisten können, so Frenzel. »Das ist ehrlich gesagt mein Kopierschutz. Ich verzichte auf Seriennummern oder Dongle. Dazu kommt, dass ich vernünftigen Support leiste und als Person statt als anonyme Firma ansprechbar bin.«
Ob der Preis dazu führe, sich vor manchen potenziellen Kunden qualitativ rechtfertigen zu müssen? »Das Problem sehe ich auch. Aber: Mit dem Preismodell fühle ich mich wesentlich wohler als den dreifachen Preis pro Plug-in zu verlangen. Das ist einfach eine persönliche Entscheidung. Ich versuche, das Ganze nach wie vor als Hobby zu sehen, auch wenn es mein Beruf ist. Den Hobbycharakter, dass ich es aus purem Spaß mache, möchte ich beibehalten – genauso würde ich mir selbst das Plug-in-Business wünschen. Es sollte auch klar sein, dass ich eine Ein-Mann-Firma bin und kein großes Support-Team habe, auch wenn ich direkten Support leiste.«
Mit dem eigentlichen Geschäft ist er nach wie vor zufrieden. »Ich hatte das große Glück, dass mein Geschäftsmodell von Anfang an ziemlich gut funktioniert hat und sich seitdem eigentlich nicht viel verändert hat. Dass es ankommt, ist purer Luxus.«
Kostenlose »Light«-Versionen
Freeware-Varianten hat er ebenfalls im Angebot, die »zum Anfüttern« gedacht sind, wie er sagt, und die für sich genommen bereits grundlegende Funktionen der »Vollversion« bieten – darunter der MJUC Jr. mit dem Fairchild-Kompressor-Modus und deutlich reduzierter Bedienbarkeit. »Wenn ich schon keine Demo-Versionen habe, sollte es wenigstens ein paar Freeware-Goodies geben – vielleicht auch, um der Szene etwas zurückzugeben. Der Support-Aufwand für Demo-Versionen wäre auch wesentlich größer. Bei den Freeware-Goodies kommen kaum Anfragen – was auch daran liegt, dass sie einfach strukturiert sind. Teilweise haben sie nur zwei Knöpfe.«
Aktuell arbeitet er an einem Hall-Plug-in, das Anfang 2022 veröffentlicht werden soll. »Der Hall wird von elektro-mechanischen Geräten inspiriert sein, allerdings komplett algorithmisch realisiert.« Damit will er den Klangcharakter flexibel einstellbar machen, verglichen mit einem Convolution-Ansatz, so Frenzel.