Live-Recording-Sessions für Vinyl-Veröffentlichung
von Nicolay Ketterer,
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(Bild: Nicolay Ketterer)
Das »Vereinsheim«, ein Live-Projekt mit eigenen Songs zwischen experimentellem Folk-Rock und flinkem Pop, hat sich im süddeutschen Raum etabliert. Das Kollektiv dient den Beteiligten — darunter Profimusiker, ein Tontechniker und ein Medienkünstler — als Rückkehr zur »ursprünglichen Idee« des Musikmachens: mitten im Raum, weitgehend ohne Monitoring, stattdessen aufeinander hören. Für eine Vinyl-Veröffentlichung soll der Live-Ansatz mit Publikum ins »Studio-Wohnzimmer« verlegt und direkt auf eine 2-Spur-Bandmaschine gemischt werden.
Zurück zum Ursprung: Musik gemeinsam im Raum spielen, ohne klassisches Monitoring, stattdessen aufeinander hören. »Wir − Schlagzeuger Tommy Baldu [u. a. Laith Al-Deen, Xavier Naidoo und Söhne Mannheims; Anm. d.Red.], Keyboarder Nico Schnepf, Sänger David Maier, Lichtmann Haegar und ich – haben zu fünft das ›Vereinsheim‹ gegründet. Wir sind alle in ganz Deutschland unterwegs, wollten aber mal ein Projekt zusammen machen«, erklärt Rouven Eller, der als fester FoH-Mann für Laith Al-Deen, Lou Bega und Rolf Stahlhofen (Söhne Mannheims) unterwegs war.
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Sie haben Stücke geschrieben – grob experimentellen Folk-Rock mit deutschen Texten – und nach einem geeigneten Rahmen gesucht. »Für mich war wichtig, Musik anders zu erleben, weg von einer großen Beschallungs- und Monitorlösung, in die sich jeder in seinen eigenen Mikrokosmos ein stöpselt.« Er habe sich auf eine Proberaumsituation zurückbesonnen, meint Eller: »Dort geht es darum, die Dynamik anzupassen: Wenn mein Element zu laut ist, spiele ich leiser oder drehe mich runter.« Aus dem Grund wollte er − bis auf einen entfernten Gesangsmonitor − ohne Monitoring und In-Ear-Systeme auskommen. Die Musiker sollten sich so nah zusammensetzen, dass jeder auf den anderen achtet, mitgeht. Statt üblicher Beleuchtung verwenden sie Wohnzimmerlampen, Beamer projizieren verfremdete Visuals auf die Wände.
Bild: Pink Event Services
»Pink Event Services«-Chef und Vereinsheim-FoH-Mann
Rouven Eller
Bild: Nicolay Ketterer
Der italienische Tontechniker
Lujendo Ventrucci war vor drei
Jahren bei der Aufnahme-
Session eines Freundes in
Pfinztal zu Gast. Er arbeitet
seitdem in dem Studio.
Das Projekt entstand vor rund sechs Jahren. »Wir veranstalten das ›Vereinsheim‹ zwei bis drei Mal im Jahr, jeweils eine Rutsche von zwei bis vier Gigs.« Sie spielen meist im regionalen Einzugsgebiet, in der gefühlten Band-Heimat Karlsruhe und Mannheim, wo die Konzerte immer ausverkauft seien, erzählt Eller, in Stamm-Clubs; das Projekt war auch in Ludwigsburg oder Frankfurt unterwegs. Die Bühne wird jeweils in der Mitte des Raums aufgebaut, als »360-Grad-Konzert«, wie sie es nennen. »Wir wollten das Publikum in ein Wohnzimmer holen. Der Raum ist rundum bestuhlt, die Leute sitzen so nah dran, dass sie theoretisch mitspielen könnten. Das soll eng und kuschelig sein, das Publikum mitnehmen.« Der Saal sei ein Hexenkessel, meint Eller, es sei keine getaktete Show. »Der Abend lebt davon, dass sich ein Song manchmal in eine andere Richtung entwickelt.«
Zum Kern haben sich in den letzten Jahren der Bassist Paucker (u. a. Joy Denalane, Max Herre, Thomas D) und der isländische Gitarrist Ómar Guðjónsson gesellt, der aus Reykjavík einfliegt. Die Musiker bildeten eine passende Einheit, meint Eller. »Für jeden der sieben Leute, die hier fest mitmachen, ist das eine tolle Reise, mit Gastsängern, die bei jeder Konzertserie wechseln.« Bislang waren etwa Zweiraumwohnung dabei, die eigentlich elektronische Musik machen. »Das ist ein Zurückkommen, einfach mal darauf einlassen! Manchmal ist es schwierig: Wenn jemand sehr leise singt, müssen schlicht alle sehr leise spielen! Die Musiker müssen sich anpassen.« Der Klang müsse im Raum funktionieren.
Konzert-Recording
Das Publikum habe immer nach einer Platte gefragt, erzählt Eller. Eine Idee war, eine Live-Compilation mit bisherigen Gästen zu veröffentlichen. »Die hätten das vielleicht freigegeben, aber dann will jedes Management mitreden.« Geld sei damit ohnehin nicht zu machen. Sie haben sich schließlich entschlossen, zwei Recording-Sessions mit kleinerem Publikum mitzuschneiden, im Studio von Ellers Veranstaltungstechnik-Firma Pink Event Services in Pfinztal bei Karlsruhe. »Zuerst wollten wir ohne Publikum aufnehmen, aber wir würden nicht in die gleiche Stimmung kommen. Davon lebt die Musik.« Sie hätten sich auch gegen die Veröffentlichung eines regulären Konzertmitschnitts entschieden, »… weil wir die Aufnahme grundsätzlich analog halten wollen.«
Im Pink Studio in der ersten Etage des Firmengebäudes stehen eine analoge SSL 5000-Konsole und Outboard-Equipment. »Dazu wollen wir live auf eine Telefunken 2- Spur-Maschine mischen, sodass das Ergebnis nach den beiden Sessions theoretisch fertig ist. Das wird nicht bei allen Songs funktionieren: Wir schneiden zur Sicherheit die Einzelspuren in Pro Tools mit, aber es wäre schön, wenn ein paar Mischungen endgültig funktionieren und den Live-Ansatz vermitteln.« Entsprechend dem analogen Grundgedanken soll das Album auf Vinyl veröffentlicht werden. Sie hoffen, 1.000 Exemplare zu verkaufen, etwa bei Konzerten.
Im Studio sind drei Aufnahmeräume vorhanden. Eller entschied sich, abseits der Live-Arbeit ein Studio aufzubauen. »Heutzutage musst du die Studio-Plug-ins für deine FoH-Arbeit kennen, weil sie dort für den Mix teilweise erwartet werden.« Eine Dachterrasse mit Blick auf die Pfinz, den örtlichen kleinen Fluss, vermittelt fast mediterranes Flair. Rouven Eller: »Die Leute sollen sich wohlfühlen und sozusagen im Wohnzimmer aufnehmen − das ist die Idee des Studios. Dann bekommt man auch das Ergebnis aufgenommen, das man haben will.« Es sei kein öffentliches Studio, sondern nur für eigene Produktionen und betreute Künstler gedacht.
Die Firma hat zudem mittlerweile ein Label, Pink Records, zur Veröffentlichung eigener Projekte gegründet. »Wir versuchen, unsere eigene Label-Community aufzubauen«, erklärt Lujendo Ventrucci, der neben Rouven Eller als Tontechniker im Studio arbeitet. »Wir wollen Teil des kreativen Prozesses sein, nicht nur ein reiner Aufnahmeservice.«
Aufgenommen werden die beiden Vereinsheim-Live-Sessions im großen verwinkelten Flurbereich, dessen Decke akustisch behandelt ist − so können sie Sitzplätze für 50 Zuschauer unterbringen, sie bezeichnen den kleineren Live-Rahmen als »Vereinsheim intim«.
Mikrofonierung
Die Drums von Tommy Baldu sind »jazzig« experimentell gehalten, mit offener Stimmung. Eine Felldecke dämpft das geschlossene Frontfell der Bassdrum von außen. Die Overhead-Mikrofonierung erscheint ungewöhnlich, mit einem Voxorama Typ-47-Mikrofon in der Mitte, daneben zwei Schoeps CMC-5-Kleinmembraner mit MK4-Kapseln. »Grundsätzlich versuchen wir, ein Gesamtbild der Drums von oben einzufangen. Wir verwenden das Voxorama als Hauptmikrofon, dazu die beiden Schoeps und ein AKG D12 an das Bassdrum«, meint Lujendo Ventrucci. Den Hauptanteil mache das Voxorama aus, ergänzt Rouven Eller. »Die Musik hat viele jazzige Elemente, daher funktioniert die ›ganzheitliche‹ Abnahme − bei definierten Pop-Nummern müssen wir allerdings einzelne Mikros zuschieben.«
Zwischen Bassdrum und Stand-Tom hängt ein Beyerdynamic TG201, das Eller für Attack-Anteile der Bassdrum nutzt. An der Snare verwenden sie oben wie unten ein Shure SM57, die Toms werden mit Sennheiser MD421 abgenommen, die Hi-Hat mit einem AKG C451-Kleinmembran-Kondensatormikrofon. Die Mikrofone verwendeten sie allerdings nur leicht als Unterstützung, je nach Song. »Tommy liefert bereits sehr runde Klänge an − da möchte ich gerne Phasing durch zusätzliche Mikrofone nach Möglichkeit vermeiden«, erklärt Ventrucci.
Bild: Nicolay Ketterer
Als Overheads dienen drei Mikrofone: im Zentrum
ein Voxorama »Typ 47«-U47-Nachbau, daneben
zwei Schoeps CMC-5U-Kleinmembran-Kondensatormikrofone.
Das Voxorama liefert im Mix den
»Hauptanteil« des Schlagzeugs.
Am Gitarren-Amp mit 4×10-Zoll-Speakern setzen Eller und Ventrucci ein Neumann TLM103-Großmembran-Kondensatormikrofon, dazu ein Beyerdynamic TG201 als dynamische Ergänzung, gemischt im Verhältnis 50/50. »Wir checken die Phase−Bass und Höhenanteile nehmen wir vom Kondensatormikrofon, dazu den Mittenbereich vom Beyerdynamic. In Kombination mit einem Kondensatormikrofon funktioniert das für mich hier besser als ein Shure SM57, ohne unangenehme Aufschichtungen bei 2 kHz. Ansonsten: Ich versuche, das SM57 generell zu ersetzen, komme aber immer wieder darauf zurück«, meint Vetrucci lachend. Es sei eine Hassliebe. Er verwendet je ein SM57 an der Snare-Ober- und Unterseite: »Manchmal verwenden wir unten ein Kondensatormikrofon, aber dann musst du viel filtern, damit es funktioniert.« Mit dem SM57 funktioniere das Ergebnis recht gut.
Der Bassverstärker wird mit einem Sennheiser MD421 abgenommen, zusätzlich werden die DI-Signale am Bassverstärker und am Bass selber aufgenommen. Der Keyboard-Amp von Keyboarder Nico Schnepf ist mit einem Sennheiser MD441 mikrofoniert. Er steuert Piano-Sounds über ein selbstgebautes Master-Keyboard und ein Notebook an, das per DI abgenommen wird. An der Decke hängen zwei Neumann KM184-Kleinmembran-Kondensator-Mikrofone in XY-Anordnung, um Gesamtflair und Publikum einzufangen.
Effekte
»Mein Haupteffekt ist ein analoger Klark Tekniks DN50-Federhall«, erklärt Rouven Eller. »Der liefert viele Anteile beim Gesangs-Sound, dazu noch ein Eventide Harmonizer für einen leichten Chorus-Effekt. Einen TC Electronic M-One-Hall nutzen wir hauptsächlich für die Drums. Als Delay funktioniert leider mein TC D-Two seit gestern nicht mehr, daher routen wir einzelne Plug-ins aus Pro Tools als Einschleif-Effekt auf das Pult: ein Waves H-Delay und eine Waves Abbey-Road-Plate für kurze Hall-Effekte auf der Stimme.« Die meisten Kanäle sind komprimiert, »manche nur als Sicherheitsnetz, andere zum ›Anwärmen‹ der Spur, zum Beispiel ein dbx 160 auf dem E-Bass. Die Bassdrum ist leicht über einen Vintech 609CA komprimiert, das Voxorama-Overhead über den Millenia TwinComp, Snare und Gesang mit dem Amek 9098.« Einen modifizierten ADL1000-Röhren-Kompressor setzen sie auf den beiden Gitarren-Amp-Mikrofonen ein. Als zusätzlicher Outboard-EQ abseits des Pults wird ein vierkanaliger Sutera 73 NeveEQ-Klon auf beiden Bassdrum- und Snare-Mikrofonen verwendet.
Als Bandmaschine dient eine Telefunken M15A. »Wenn wir Glück haben, können wir zwei, drei Songs direkt vom Live-Mix nehmen.« Beim ersten Konzert am Vorabend könnten bereits ein, zwei Nummern dabei sein, schätzt Eller. »Schnitte bei Spielfehlern werden wir allerdings keine machen, wir werden auch nichts neu einspielen. Die Vocals kommen gut genug über das Shure SM7b, mit übersichtlichen Übersprechungen. Wenn uns ein Song bei keinem der beiden Abende überzeugt, kommt er auch nicht auf die Platte, weil er es dann offensichtlich nicht verdient hat.«
Bild: Nicolay Ketterer
Die Bassdrum wird am geschlossenen Frontfell mit einem alten AKG D12abgenommen, …
Bild: Nicolay Ketterer
… die Attack-Anteile mit einem beyerdynamic TG201 am Schlagfell.
Konzert
Das Publikum wird über kleine PA-Satelliten mit dem Studiomix beschallt. »Wir haben auf Keyboards, Bass und Gitarre etwas Effekte drauf, aber sehr reduziert im Vergleich zu dem, was ich bei einem Konzert machen würde − das wäre am Ende sonst zu laut für die Studio-Situation.« Vor dem Konzert sind Handy-Einstreuungen im Keyboard-Amp wahrnehmbar. Beim Konzert fordert Eller die Zuschauer als Stimme aus dem Off des Regieraums auf, Handys in den Flugmodus oder auszuschalten … bis auf Gitarrist Ómar Guðjónsson − der sei Reservist der isländischen Armee und müsse jederzeit erreichbar sein; schließlich könne es jeden Moment losgehen, schränkt Sänger David Maier ein. Das Ergebnis klinge mehr nach Proberaum als die herkömmlichen Konzerte, erklärt er dem Publikum. Einzelne Zuschauer können im Regieraum beim fertigen Ergebnis zuhören, die Gäste wechseln im Laufe des Konzerts − unterteilt in zwei Sets − durch.
Die Band liefert teilweise ruhige Klanglandschaften, denen das Publikum gebannt lauscht. Schlagzeuger Baldu spielt sparsame Rhythmen auf offener Snare ohne Teppich. Er verwendet gelegentlich Tücher als bewussten Dämpfungseffekt, setzt teilweise Schlegel ein und nutzt auch Toms für Rhythmen. Gitarrist Guðjónsson liefert atmosphärische, mitunter leicht sperrige Indie-Blues-Schattierungen, untermalt von sphärischen Synth-Flächen oder bearbeiteten Pianoklängen.
Sänger David Maier vermittelt bei seinen deutschen Texten den Spagat zwischen Befindlichkeitsprosa und halbironischen Pointen, die Gesangsstimmung erinnert an Element Of Crime. Die Songs bewegen sich zwischen experimentellem Folk-Rock und Pop, mit großem Dynamikspektrum. Medienkünstler Haegar setzt größtenteils auf warme Farbprojektionen, das Ergebnis unterstützt die »Wohnzimmer-Atmosphäre« im Raum.
Zwischendurch wird das Band gewechselt. Probleme sind − bis auf vereinzeltes Feedback vom Gesangsmikrofon − keine zu hören.
Am Vorabend hätten sie »mehr auf Sicherheit gespielt«, erklärt Keyboarder Nico Schnepf später. Die Variante sei nun bereits vorhanden gewesen, sie hätten beim zweiten Mal musikalisch mehr riskieren wollen.
Was für die Live-Abmischung nicht funktioniert hat? Eller: »Die schnellen Nummern, wo ich viele Effekte drauflege: Beim Song Dorian Gray verwende ich leichte Distortion auf dem Gesang, genau im passenden Moment.« Da verzeihe ein großer Raum und die Live- Situation mehr, aber es sei schwierig, beim Studio-Mix »live« auf den Punkt zu kommen. Bei den entsprechenden Stücken würden sie einen neuen Mix mit den Pro-Tools-Einzelspuren machen, allerdings ebenfalls auf Band abmischen.
Am Ende konnten vier Songs direkt von der Live-Tape-Mischung verwendet werden. Das Album soll voraussichtlich Mitte 2018 erscheinen.