Marian Gold über die Produktion von Alphaville – Strange Attractor
von Matthias Fuchs, Artikel aus dem Archiv
Anzeige
Wer glaubt, Marian Gold und seine musikalischen Mitstreiter hätten nach ihrem phänomenalen Blitzstart anno ’84 die Füße auf den Tisch gelegt, hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Vielleicht haben sie gelegentlich einen Gang zurückgeschaltet, aber wirklich weg waren sie nie. Wie präsent und zeitlos Alphaville heute klingen, zeigt das aktuelle und siebte Studioalbum Strange Attractor.
Mit Megahits wie Forever Young, Big In Japan oder Sounds Like A Melody haben Alphaville unsterbliche Songikonen geschaffen, die auch nach über drei Jahrzehnten nichts von ihrer Intensität eingebüßt haben. Seit damals ist viel passiert: Wohl wissend, dass eine solche Blitzkarriere ebenso Segen wie Fluch bedeuten kann, hat Mastermind Marian Gold gar nicht erst versucht, die Welle des frühen Erfolgs möglichst lange weiterzureiten. Stattdessen hat er sich bewusst alle künstlerischen Freiheiten gegönnt, inklusive gelegentlicher Schaffenspausen, um die Welt immer dann mit neuen Songs zu überraschen, wenn das lange und gründlich vorbereitete Material wieder einmal ausreichend gereift zu sein schien. So ist Strange Attractor das erste Alphaville-Studioalbum seit nunmehr sieben Jahren.
Anzeige
Während große Melodien und opulente Arrangements ganz an Alphavilles Klassiker erinnern, überrascht das neue Werk mit deutlich rockigerem Sound und reichlich funkigsouligen Grooves. Wir sprechen mit Marian Gold und seinem langjährigen Produzenten »Blacky« Schwarz-Ruszczynksi über alte und neue Sounds und Songs aus Alphaville.
Marain, was ist neu an Strange Attractor?
Marian Gold: Die Funk-inspirierte Musik der späten 70er-Jahre hat mich total angeturnt − etwa die Grooves von Saturday Night Fever. Auch Glitter-Rock-Bands wie The Sweet fand ich geil. Das waren definitv Trigger für Songs wie Fever! und Heartbreak City. Die Verbindung von Rock, Elektronik und diesen funkigen Grooves war eine richtige Offenbarung für mich.
Hast du den Anspruch, Neues zu erfinden?
Für uns ist jedes Album ein Schritt auf weißes Territorium. Aber natürlich gibt es Elemente in unserem Stil, die sich nicht mehr verändern. So erzählen wir nach wie vor Geschichten, und das erfordert bezüglich der musikalischen Möglichkeiten gewisse Einschränkungen. Außerdem lieben wir einfach Melodien.
Warum muss man immer so lange auf neue Alphaville-Alben warten? Ist Songwriting harte Arbeit für dich?
Seit ich 1982 mit Alphaville angefangen habe, arbeite ich nicht mehr (lacht). Ich habe das Musikmachen noch nie als Arbeit empfunden − eher als unendliche Ferien. Wenn wir im Studio »arbeiten«, haben wir keine Eile und keinerlei Verpflichtungen. Wir folgen einfach unseren Eingebungen. Die Band bringt Ideen mit, ich sammele Ideen am Klavier, am Computer oder spontan im Smartphone. Das können zunächst irgendwelche Licks sein. Ich glaube, ich verfüge über ein Talent, solche Puzzleteile zusammenzusetzen. Mit der Zeit wandeln sich diese Puzzleteile in Demos. Und ab einem bestimmten Punkt entwickeln die Stücke eine Art Eigenleben und sagen einem selbst, ob das jetzt schon der Knaller ist oder ob noch etwas fehlt. So entstand schon Big In Japan: Ich hatte diese absteigenden Quinten im Kopf und Are Friends Electric im Ohr (von Gary Numan; Anm.d.Red.). Noch ein paar biografische Schnipsel dazu, und das Ergebnis war Big In Japan. Andere Songs brauchen dagegen viel Zeit. Es entstehen manchmal zahllose Versionen, die sich immer wieder verändern. Auf der Vinyl von Strange Attractor haben wir einige dieser frühen Demos veröffentlicht. Sie sind letztlich eigenständige Songs geworden.
Diese Arbeitsweise verfolgst du schon seit den frühen Tagen von Alphaville?
Letztlich ja. Ich bin kein »richtiger« Musiker und kann immer noch keine Noten lesen. Zur Musik bin ich als Fan gekommen − über meine Plattensammlung und über Musiker, die ich verehrt habe. Ich hatte zunächst nie gedacht, selbst Musiker werden zu können. Und auf einmal gab es Rhythmusmaschinen und Sequencer! Gut, mittlerweile kann ich Ideen am Klavier einspielen. Aber im Grunde bin ich immer noch der größenwahnsinnige Fan von damals …
Wie habt ihr euch damals an diese »neuen« Instrumente angenähert?
Anfang der 80er wurden elektronische Instrumente erstmals halbwegs bezahlbar. Wir waren in Berlin gestrandet und wohnten in besetzten Häusern. Das Geld für Instrumente hab ich mir auf dem Bau zusammengearbeitet.
Welches waren eure ersten elektronischen Instrumente?
Ich erinnere mich an einen Boss Dr. Rhythm und an so einen Plastik-Sequencer (DR-55 und MFB601; Anm.d.Red.). Damit wurde improvisiert. Achja − ein Roland System-100M hatten wir auch. Den Großteil meiner Plattensammlung hab ich dafür verkauft … Aber ohne dieses Teil hätte es Big In Japan wohl so nie gegeben. Wir haben die Oszillatoren im Quintabstand gestimmt und hatten dann diese Bassline. Auch die Orchester-Hits − im Studio kamen später Samples darüber − waren zunächst 100M-Sounds. Tonbandschleifen haben wir auch gebastelt. Brian Eno hatte das damals vorgemacht. Zum Tape haben wir dann live gespielt. Das klang alles ganz schön scheiße, aber wir hörten zum ersten Mal unsere eigenen Ideen außerhalb unserer Köpfe! Und da wurde mir klar, dass wir tatsächlich Musik schreiben konnten − eine überirdische Erkenntnis! Und Schluss mit ›No Future‹ … (lacht).
Nutzt ihr aktuell noch alte Synths?
Im Studio stehen noch Franks (Mertens − erster Alphaville-Keyboarder; Anm.d.Red.) alter Minimoog, der ARP Odyssey − damit wurde übrigens die Trompete von Forever Young eingespielt − und der Jupiter-8. Wir hatten uns eigentlich einen Jupiter-4 gewünscht, aber Frank kam eines schönen Tages tatsächlich mit einem 8er an! Wir verwenden diese Synths gelegentlich noch, weil wir sie schön finden. Das ist aber kein Dogmatismus.
Welcome back to Alphaville … Ebenso wie die Musik und die Band selbst haben sich auch die Produktionsmittel von Alphaville über die Jahrzehnte gewandelt — vom handgespielten Analogsynth mit Bandmaschinen-Playback zum Logic-Projekt mit 150 Spuren.
Bild: Copyright 2002
Bild: Lloyd,
Bild: Matthias Fuchs
Bild: Matthias Fuchs
Heute sind die technischen Möglichkeiten unbegrenzt verfügbar. Macht das die Sache einfacher, die Musik spannender?
Es hängt davon ab, ob sich die Leute den ästhetischen Vorstellungen ihrer Zeit unterwerfen oder nicht. Damals hatte man wenig Möglichkeiten und war gezwungen, drauflos zu improvisieren. Und es gab ein Publikum, welches Neuem gegenüber sehr aufgeschlossen war. Alphaville hat und hatte immer sein ganz eigenes Klanguniversum.
Heute scheinen Künstler vielfach darüber nachzudenken, welche Zielgruppen sie befriedigen müssen, um erfolgreich zu werden … oder es zu bleiben. Sowas find ich doof. Toll an den aktuellen technischen Möglichkeiten ist der spontanere Zugriff: Man muss nicht mehr in ein Studio gehen, um eine Idee festzuhalten. Man kann dazu in sein Telefon singen.
Wo und wie wurde Strange Attractor produziert?
Vieles ist in Blackys Studio passiert. Blacky war maßgeblich an der Produktion beteiligt und hat auch viele Gitarren eingespielt. Es sind zahlreiche Gitarren auf dem Album zu hören, aber oftmals gar nicht mehr als solche zu identifizieren.
Blacky: Vor allem Drums und Gitarren haben wir sehr ausgiebig geschnitten und bearbeitet. Drums sind vielfach programmiert, auf einen bestimmten Groove geschoben und dann mit akustischen Drums gedoppelt oder auch dadurch ersetzt worden. Die Gitarren sind z. T. aus vielen Mosaiksteinchen zusammengebaut.
Marian: Ich brauche ordentlich klingende Drums als Grundlage für alles Weitere. Da ist es am einfachsten, wenn man erst einmal etwas programmiert. Man hat dann ohne großes Herumgeschraube gleich einen einigermaßen anständigen Sound. Außerdem können so sehr interessante Ergebnisse entstehen − nicht unbedingt so richtig groovig, aber verrückt, vertrackt und verdreht.
Und die Vocals?
Da sind viele Aufnahmen ziemlich spontan entstanden. Wenn Blacky und ich unterwegs waren, ist uns manchmal eingefallen, dass wir jetzt eigentlich ganz schnell etwas aufnehmen müssten − irgendeine spontane Idee. Dann sind wir in sein Studio gezischt, haben etwas verpeilt das erstbeste Mikro geschnappt, und los ging’s. Am nächsten Tag haben wir dann festgestellt − oh, geil, aber ein bisschen scheiße aufgenommen. »Marian, kannst du das nochmal machen?« Meist war dann aber die perfekt aufgenommene Version nicht so intensiv wie die kaputte aus der vergangenen Nacht. Die Performance ist einfach das Entscheidende.
Blacky: Bei den Vocals haben wir auch viel am Sound gebastelt. Beispielsweise ist der Gesang bei Heartbreak City eine Oktave höher gedoppelt, dann habe ich die Originallage weggelassen − klingt cool. Und mit Antares Throat haben wir die Stimme in manchen Songs schön kaputt gemacht.
Marian: Gebastel ist super, solange der Flow erhalten bleibt.
Wie hat sich der Mix abgespielt?
Blacky und ich haben Premixe in seinem Studio am Computer gemacht. Die eigentlichen Mixe hat dann aber Michael Ilbert im Hansa Studio fertig gestellt.
Ich kenne Michael schon seit vielen Jahren. Er ist einfach der Mixer meines Vertrauens, denn er versteht Alphaville. Ich arbeite sehr gerne mit Leuten aus meinem engeren Umfeld zusammen. Eine stimmige Chemie ist mir wichtiger als irgendwelche sogenannten Cracks, die vielleicht von der Plattenfirma vorgeschlagen werden.
Alphaville fand ich in den 80ern bereits genial. Einer wenigen Bands, die über die Jahre sogar noch besser geworden ist! 🙂