Raus aus der musikalischen Schublade

Mixpraxis – Ricky Reed über die Produktion von Lizzos Erfolgsalbum Strange

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Ricky Reed über Mischpult lehnend

Der Grammy-Gewinner aus LA verrät seine Ansprüche und Erfahrungen als Produzent und berichtet über seine Lieblings-Tools und Workflows. Und verrät uns ein Geheimnis …

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»Immer wenn ich Künstler für eine Session treffe, bringe ich einen bestimmten Anspruch mit: Ich versuche, sie dabei zu unterstützen, etwas Reines, Ehrliches und klanglich Beeindruckendes zu schaffen. Bei Letzterem muss das nicht immer »laut« oder »hart« bedeuten – Weichheit, Verletzlichkeit oder Schönheit kann ebenso beeindrucken. Ich versuche, diese Elemente in jeden Song einzubringen.

Natürlich weiß ich, dass bestimmte Songs auch ganz bestimmte Eigenschaften und Elemente benötigen. Unabhängig vom Genre ist es jedoch entscheidend, dass der Künstler über Authentizität verfügt, und die muss ich unterstützen. Ein toller Song klingt gut, er gibt dir ein Glücksgefühl, er beeindruckt und bewegt dich. Für mich ist es ein großes Vergnügen, all diese Qualitäten in sämtlichen Genres gleichermaßen zu entdecken. Seit meiner Jugend höre ich wirklich jede Musik, und ich glaube, auch viele andere Leute machen sich gerade frei von musikalischen Schubladen.«

Frederic aka Ricky Reed ist seit über 20 Jahren in der Musikindustrie tätig. Vor acht Jahren hat er deren Spitze erreicht. Entsprechend vielen Songs hört man seinen oben beschriebenen Anspruch an – so auch – seiner Arbeit für Lizzo. Ricky entdeckte die Sängerin 2015 und bot ihr einen Vertrag bei seinem neu gegründeten Label Nice Live an. Seitdem ist Ricky Lizzos Co-Songschreiber, Co-Produzent und Mixer für die EP Coconut Oil (2016) sowie die Alben Cuz I Love You (2019) und Special (2023). Lizzos große Hits Truth Hurts, Good as Hell und – ganz aktuell – About Damn Time gehen also mit auf seine Kappe.

Darüber hinaus ist Ricky als Co-Produzent und/oder Co-Autor an diversen Hits von anderen Künstlern beteiligt. Dazu zählen Camila Cabello, Maroon 5, Halsey, Jason Derulo, Pitbull, Jessie J, Twenty One Pilots, The Weeknd, Bomba Estéreo und viele andere. Zudem betätigt er sich selbst als Künstler, zunächst unter dem Pseudonym »Wallpaper« und danach als Ricky Reed mit zwei Soloalben. Er wurde bisher mit zwei Grammys ausgezeichnet und für sechs weitere nominiert.

König Midas

Es drängt sich der Eindruck auf, Rickys Hände würden buchstäblich alles in Gold verwandeln – egal ob er als Songschreiber, Sänger, Künstler, Multi-Instrumentalist, Mixer, Produzent, A&R oder Betreiber seiner Plattenfirma tätig ist. Genres spielen dabei ebenso wenig eine Rolle. Ricky beherrscht Pop, R&B, Hip-Hop, Synth-Pop, Disco, Funk, Rock, Indie-Rock, Electro und Eurodance sowie verschiedene Latin-Styles.

Wir unterhalten uns mit Ricky via Zoom. Er befindet sich beim Gespräch in seinem Studio bzw. in den Büroräumen seiner Plattenfirma in der Nähe des Elysian Parks, Central Los Angeles. Die musikalische Vielseitigkeit schreibt Ricky seiner Herkunft aus der Bay Area und deren außerordentlicher Musikszene zu. Schon im Teenie-Alter begeisterte sich Ricky für den Psychedelic-Rock von Jefferson Airplane, den Funk eines Sly Stone und den Latin-Rock von Santana. Während der 90er kommt Hip-Hop, etwa von E-40 und Too $hort, hinzu.

„Zu Hause lief immer Musik – Motown, Funk und Disco, später auch viel 80er-Musik wie etwa Steely Dan. Während meiner Highschool-Zeit explodierte gerade der Pop-Punk. Ein paar von den Green-Day-Jungs gingen sogar auf meine Highschool. Auch ich spielte Gitarre in einigen Punk-, Progrock- und Heavy-Bands. Das war eine wichtige Zeit, denn ich lernte, wie man sein Publikum beeindruckt. Zudem erlaubte mir der Besitzer des Studios, in dem wir aufnahmen, während der Nachtstunden nach Lust und Laune zu experimentieren. So habe ich zur Produktion gefunden.“

Das Cover von Ricky Reed Is Real von Rickys damaliger Band Wallpaper
Das Cover von Ricky Reed Is Real von Rickys damaliger Band Wallpaper

Nach seinen Erfahrungen als Gitarrist gründet Frederic 2005 die Band Wallpaper und singt zu seinen am Computer generierten Hip-Hop- und Pop-Beats. Dabei ist reichlich Autotune im Spiel – ein seinerzeit noch sehr umstrittener Effekt. Gleichzeitig entwickelt Frederic sein Bühnen-Alter-Ego „Ricky Reed“. Zwischen 2005 und 2015 veröffentlicht Wallpaper vier EPs und zwei Alben, das letzte davon unter dem Titel Ricky Reed Is Real (2013).

Von der Gitarre zum Producer-Sessel

In der Folgezeit wird Ricky Reed tatsächlich immer realer, während er unter seinem bürgerlichen Namen Frederic kaum noch in Erscheinung tritt. Neben Wallpaper beginnt Ricky mit dem Songwriting und der Produktion für andere Künstler, darunter für CeeLo Green, Far East Movement, Pitbull und Jason Derulo. Mit seiner Beteiligung an der Produktion von Derulos Megahit Talk Dirty (2013, vierfach Platin) startet Ricky endgültig durch. Er beendet Wallpaper und zieht nach LA.

Nach weiteren Megaerfolgen als Co-Autor und Co-Produzent gründet Ricky Anfang 2016 sein eigenes Label Nice Live als Joint Venture mit Atlantic Records. Gleichzeitig richtet Ricky sein Elysian Studio ein – als digital-analoger Hybrid mit Harrison-Pult und zahlreichen Hardware-Keyboards. Zusammen mit seinen beiden Engineers Ethan Shumaker und Bill Malina entstehen hier Aufnahmen und Mixe für verschiedene Künstler sowie das eigene Material, darunter auch Rickys Soloalbum The Room von 2020.

Ricky Reed in seinem digital-analog ausgelegten Elysian Studio
Ricky Reed in seinem digital-analog ausgelegten Elysian Studio

„Für eine ganze Weile schien mir Musik unter meinem eigenen Namen mehr oder weniger abgehakt zu sein“, erinnert sich Ricky. „2020 hatte ich jedoch das Gefühl, unbedingt und sofort ein Album machen zu müssen. Bei meiner eigenen Arbeit verfolge ich denselben Anspruch wie mit anderen Künstlern: Es muss ehrlich und beeindruckend klingen.

Ich denke viel darüber nach, wie ich mit meinen Künstlern umgehe – wie ich mit ihnen neue musikalische Bereiche erkunden kann. Dabei erscheint es mir wichtig, möglichst viel Zeit mit ihnen in einem Raum zu verbringen, um Dinge gemeinsam zu erarbeiten. Das macht riesigen Spaß, weil es so unterschiedlich sein kann. Manchmal bekomme ich nur einen kleinen Loop-Schnipsel, und ich sage: ‚Whow, cool! Spielen wir doch einmal dieses oder jenes dazu.’ Dann experimentieren wir, und die Dinge nehmen ihren Lauf. Ich mag es, wenn sich ein Künstler dabei weiterentwickelt und neue Dinge ausprobiert.“

Ricky betont, dass bei ihm Songwriting und Produktion immer Hand in Hand gehen: „Angenommen, wir schreiben einen Song zu einem Sample. Während wir an den Vocals arbeiten, editiere ich das Sample und finde einen Sound, der den Künstler weiter inspiriert. Nicht selten passieren Songwriting, Produktion und sogar bestimmte Aspekte des Mixes gleichzeitig.“

„Ich mag es, wenn jemand anderes meine Tracks mischt und sie mit frischen Ohren auf ein neues Level oder in eine neue Richtung bringt. Außerdem gibt mir das einen Grund, mit Manny [Marroquin] abzuhängen. Und er schafft es tatsächlich immer, meine Aufnahmen zu verbessern. Viele junge Produzenten sagen: ‚Warum soll ich den Mix abgeben? Alle mögen ihn. Also scheiß drauf – raus damit!’ Das kann vollkommen in Ordnung gehen – es gibt da schließlich keine Regeln.“

Ricky erklärt, dass seine Rough-Mixe grundsätzlich so gut wie möglich klingen sollen: „Sie sollen beeindrucken und nichts verstecken. Beim finalen Mix muss es aber dennoch einen Schritt weiter gehen. Ich denke dann sehr genau über meinen Masterbus nach oder patche Analog-Equipment in den Signalweg.“

Hauptsache, es klingt gut!

Von jemandem, der seit der Jahrtausendwende in der Branche tätig ist, würde man sicher eine Vorliebe für analoges Equipment erwarten. Gegenüber dem Klassiker Pro Tools bevorzugen zudem zahlreiche Songschreiber und Produzenten heute eine DAW mit ausgefeilteren MIDI-Features. Was die Ausstattung der Elysian Studios angeht, so widerspricht Ricky den Erwartungen in zweierlei Hinsicht: „Pro Tools ist mein wichtigstes Arbeitsgerät. Ich nutze es, seit ich 16 bin. Damals nahm ich als Assistent von Studiobetreiber Scott Llamas lokale Bands auf und erledigte auch sämtliche Editierarbeit. Pro Tools hatte noch keinen Grid-Mode. Also nahmen wir einen Click-Track auf und editierten die Drums zu diesem Click. Nach 24 Jahren Pro-Tools-Erfahrung ist es wie ein weiteres Körperteil – ich kenne es in- und auswendig.

Gleichzeitig liebe ich Hardware. Die taktile Erfahrung inspiriert mich sehr. Sobald aber etwas aufgenommen ist, geht es in Pro Tools weiter – meinem Lieblingsspielzeug. MIDI ist für mich eher nebensächlich. Ich stehe auf perfekt eingespielte, toll klingende Parts, die ich dann in Pro Tools herumschieben kann. Meine Vorliebe für diese Arbeitsweise hat mir einige Spitznamen eingebracht, etwa The Nudge, Nudge Guy, Nudge King oder Nudge Lord.

Letztlich gibt es für mich keine Regeln oder Dogmen bei der Produktion. Ich versuche immer herauszufinden, was für den jeweiligen Künstler am besten funktioniert. Denn ihn kümmert es in den meisten Fällen wenig, was ich mache – Hauptsache, es klingt gut! Manche Sänger klingen gut mit Autotune, andere nicht. Manche Drummer brauchen Beat Detective, andere nicht.“

Hauptsache, es klingt gut – eine löbliche Einstellung! Allerdings geht es nicht ohne das passende Werkzeug. Ricky nimmt uns mit auf eine virtuelle Studio-Tour: „Das Pult ist ein Harrison 32C, auch bekannt als ‚Thriller-’ oder ‚Off The Record’-Pult, denn diese beiden Alben wurden damit produziert – natürlich nicht auf exakt diesem Pult hier. Alle Synths und ein paar andere Signale laufen durch das Pult. Das erlaubt mir eine sehr schnelle Arbeitsweise. Der Mix erfolgt jedoch im Rechner. Allerdings nutze ich die Aux-Wege, um Hardware-Effekte einzubinden. Ich habe ein AKG BX20 und noch ein paar hübsche Reverbs und Delays mehr.

Meine Monitore sind Barefoot MicroMain 27 Gen 1. Ich kenne sie wie meine Westentasche. Bei den großen Einbau-Monitoren handelt es sich um Augspurger. Und jetzt verrate ich ein Betriebsgeheimnis: Als ich das Studio habe bauen lassen, dachte mir. ‚Das wird ein super Studio, und ich will hier Hits produzieren. Es darf auf keinen Fall passieren, dass irgendein A&R-Typ denkt, es wäre nur ein popeliges Heimstudio!’ So habe ich meinen Engineer nach richtig großen Lautsprechern gefragt – und er sagte: ‚Augspurger’. Wir bestellten ein Paar. Dann fragte er, welche Endstufe wir nehmen sollten. Ich hatte keine Ahnung, und das Budget war knapp geworden. Ich erwiderte also: ‚Hey, wir lassen sie einfach so stehen.’ Somit haben die Augspurger nie einen Ton von sich gegeben. Wir drehen die Barefoots auf, und niemand bemerkt etwas! Und jeder, der ins Studio kommt, denkt: ‚Whow – ist das fett!’ „ (lacht) Ob sich Ricky noch andere Möglichkeiten geschaffen hat, um A&R-Manager an der Nase herumzuführen, wird wohl immer sein Geheimnis bleiben …

Size matters

Und weiter geht die Studio-Tour: „Als ich hier einzog, fragte ich Manny nach einer richtig guten Vocal-Chain. Er empfahl mir abhängig vom Geschmack ein Neumann U47 oder Telefunken Ela M 251, dazu einen Vintage-Neve und einen Tube-Tech CL-1B. Also sparte ich etwas Geld und besorgte mir diese Teile.

Nun habe ich zwei Vintage Neve 1073 Preamps, ein Neumann U47 aus den 50er-Jahren und den CL-1B. Wir arbeiten sehr oft mit dieser Signalkette. Vor Kurzem habe ich noch zwei Neumann U67 und ein Paar Bändchenmikros gekauft. Letztere verwende ich mit einem AEA RPQ2 Preamp, wenn es wirklich sauber klingen soll. Außerdem gibt es noch ein bischen Standart-Outboard wie etwa den Distressor.

Im Rechner arbeite ich gerne mit den Fabfilter-Sachen. Der Pro-Q3 befindet sich auf fast jeder Spur. Außerdem mag ich die Plug-ins von Soundtoys und MacDSP. Der UAD SPL Transient Designer ist ebenfalls sehr oft dabei – vielleicht sogar etwas zu oft … Er ist wirklich toll auf Kicks, Snares und Loops. Ein weiterer Favorit ist der alte, blaue Waves SSL-Kanalzug. Den verwende ich schon immer.

Bezüglich Plug-ins bin ich jedoch eher etwas leidenschaftslos. Ich lege nur wenig Wert auf den neuesten und heißesten Scheiß und packe auch keine fünf oder zehn Plug-ins in eine Spur. Üblicherweise begnüge ich mich mit etwas EQ auf den meisten Spuren. Kompression verwende ich nur, wenn es wirklich notwendig ist, Sounds hart, laut und knackig zu machen. Dabei vermeide ich es jedoch, die Dynamik vollständig zu plätten.“

Zurück in der analogen Welt beschreibt Ricky die Instrumente in seinen Elysian Studios: „Es soll mir möglich sein, hier Gesang, Gitarren, Bass, Keyboards und Piano in absoluter Topqualität aufzunehmen. Vor einer Weile entdeckte ich auf Craiglists ein altes Steinway Honky-Tonk-Piano. Es stand früher in den Sound City Studios, LA und wurde von Elton John, Tom Petty und Fleedwood Mac gespielt – jetzt ist es quasi mein Kronjuwel. Über ein Drum-Setup brauche ich nicht nachzudenken, denn dafür habe ich hier schlicht zu wenig Platz.

In meinem kleinen Aufnahmeraum befinden sich viele Amps aus meiner Rock-Phase, darunter je ein Ampeg GU-12 und VT-40 sowie ein Silverface Bassverstärker. Ich liebe meine kleine Ampeg-Sammlung! Außerdem habe ich eine reiche Auswahl an schrägen Effektpedalen und anderen Krachmachern. Zu meinen Lieblingsherstellern gehört Chase Bliss Audio – die machen wirklich geile Pedale! Besonders beim Songwriting und bei der Produktion sind sie tolle Inspirationsquellen.

Natürlich besitze ich auch einige Gitarren und Bässe, vor allem von Fender. In meinen Bands spielte ich sehr oft einen Precision Bass und einen 82er Fullerton Reissue Jazz Bass. Auf Leon Bridges’ Album Good Thing (2018) spielte ich einen aktiven Sadowsky 5-Saiter. Sadowsky-Bässe sich wirklich super. Mein MPC-Ersatz und Instrument für die einsame Insel ist der Elektron Analog Rytm Mk2. Er ist sehr intuitiv und kombiniert super Soundsynthese und Samples.

Erst vor Kurzem habe ich den Minimoog Model D für mich entdeckt. Da war ich ein echter Spätzünder: Ich schwärmte allen Freunden vor, was das doch für ein toller Synth sei, und die sagten nur: ‚Mann – hast du das etwa auch schon gemerkt …?!’ Der Minimoog hat mich echt umgehauen und gleichzeitig meine Sucht nach Hardware-Synths ausgelöst. Nun habe ich einen Jupiter-8 und Juno-106, Korg PolySix mit KiwiSix-Mod sowie einen ARP 2600. Erst kürzlich besorgte ich mir noch einen Memorymoog, der auf Lizzos About Damn Time zu hören ist – ein Wahnsinns-Synth!“

Ricky Reed testet Hardware-Synthesizer
Ricky liebt Hardware-Synthesizer, von denen er etliche in seinem Studio einsatzbereit hält.

Lizzo und Ricky

Um bei Lizzo zu bleiben – seit dem Beginn ihrer Zusammenarbeit mit Ricky in 2016 bewegt sich ihre Karriere steil aufwärts. Das aktuelle Album Special und dessen Single About Damn Time sind Riesenerfolge. Für Ricky bestätigt sich seine Hinwendung zu Songwriting und Produktion sowie die Entscheidung zur Label-Gründung: „Eigentlich wollte ich gar kein Label gründen. Mein Manager hat mich dazu überredet. Nachdem ich ein paar Platten für Atlantic gemacht hatte, fragten sie mich, ob ich an einem Joint Venture Label interessiert sei – war ich aber nicht. Mein Manager war total entsetzt und sagte: ‚Tu es! Du schmeißt das Geld mit vollen Händen weg, wenn du es nicht machst.’ Also unterschrieb ich den Label-Deal, und Lizzo war eine der ersten Künstlerinnen bei Easy Live.

Mittlerweile bin ich sehr froh über diesen Schritt. Du investierst Herz und Seele in eine Produktion, und dann geht sie durch tausend Hände, bevor sie veröffentlicht wird. Vielleicht wird sie von jemandem gemixt, den du nicht magst? Vielleicht gefällt dir das Mastering nicht? Oder das Label sagt: ‚Ach – wir nehmen doch eine andere Single.’ Das Video kann scheiße sein, möglicherweise wird der Song gar nicht veröffentlicht. Mit einem eigenen Label hast du dagegen viel mehr Kontrolle über deine Arbeit. Ich zähle es zu meinen Aufgaben, Künstler und Künstlerinnen wie Lizzo dabei zu unterstützen, ihre Ziele zu erreichen und dabei die Werkzeuge der Major-Labels zu nutzen, sie aber auch gleichzeitig davor zu schützen.“

Dieser Anspruch wurde bei Lizzo offensichtlich erstklassig umgesetzt. Besonders wichtig war dabei Lizzos Option zur freien Auswahl ihrer musikalischen Partner. So wurden für Special mehrere Duzend Autoren und fast zwei Duzend Produzenten involviert, darunter Namen wie Benny Blanco, Mark Ronson, Ian Kirkpatrick, Pop Wansel, The Monsters and the Strangerz, Max Martin und natürlich Ricky selbst.

„Lizzo war in allen Bereichen umfassend involviert“, erklärt Ricky. Unsere Zusammenarbeit verläuft vielfach so: Sie sagt, dieses und jenes bewege sie. Ich schlage dazu musikalische Ideen vor oder schreibe etwas auf. Sie sucht dann sehr präzise den besten Vorschlag aus, und den entwickeln wir gemeinsam weiter. Dabei bringt sie ihre Ideen ein – vielleicht ein Gitarrensolo oder einen bestimmten Tonart- oder Rhythmuswechsel, möglicherweise auch etwas total Schräges wie eine Marschkapelle oder etwas anderes mit entsprechender Energie. Grundsätzlich ist sie immer Teil des Ganzen. Sie sieht das Gesamtbild und hilft entscheidend mit bei dessen Entstehung.“

Ein großer Teil der Zusammenarbeit von Lizzo und Ricky erfolgte in einem kleinen Produktionsraum in Hollywood: „Nachdem die Pandemie eingesetzt hatte, arbeiteten wir getrennt voneinander. Ich fand das sehr schwierig. Für mich entstehen die Momente, die einen Hit ausmachen, meist durch das direkte Zusammensein. Und ein solcher Moment muss umgehend eingefangen und weiterentwickelt werden – auf die Entfernung ist das sehr schwierig zu machen. Somit arbeiteten wir ab Herbst 2020 wieder zusammen – und machten täglich zwei Covid-Tests! Wir richteten uns dazu ein kleines Studio mit ein paar Bässen, Drummaschine und einem guten Mikro mitsamt Preamp ein– alles, was man so braucht. Zu Lizzos Stimme passt ein U47 hervorragend. Wir schickten sie durch einen Vintage-Neve und den CL-1B.“

Letztlich gibt es für mich keine Regeln oder Dogmen bei der Produktion. Ich versuche immer herauszufinden, was für den jeweiligen Künstler am besten funktioniert.

Aus dem Nähkästchen

„Bei Special dachte Lizzo an Drums mit einem ungewöhnlichen und nachdenklichen Charakter. Sie wollte auf keinen Fall auf irgendeinen Trend aufsetzen und vermeiden, dass man sofort hört, aus welchem Jahr die Drums sind. Somit beschäftigte ich mich lange mit der Frage, was gleichermaßen ungewöhnlich, bewegend und aktuell klingen könnte.

Bei The Sign begann ich mit einem Akkord-Loop von einem großartigen Producer namens Phoelix. Ich brachte sein tolles Half-time-Feel auf doppeltes Tempo, und Lizzo mochte es sehr. Sie schrieb dazu den großartigen Song, der schließlich Album-Opener wurde. Aber erst Mannys Mix machte The Sign zum richtigen Knaller: Manny verpasste der Kick ein unglaubliches Low-End, was dem Song diesen tollen Pop-Sound gab – ein gutes Beispiel für die Vorteile einer fruchtbaren Zusammenarbeit.

About Damn Time hat eine wirklich schräge Geschichte! Nach über zwei Jahren Arbeit am Album wollte die Plattenfirma noch einen weiteren Song. Ich war überhaupt nicht begeistert und begann die Arbeit mit zwei Produzenten, von denen einer sehr bald an Covid erkrankte. Schließlich stand ich mit Blake Slatkin da – jemand, mit dem ich noch nie zuvor gearbeitet hatte. Es war wie ein Blind Date.

Blake und ich haben recht ähnliche Skills – wir arbeiten beide mit Pro Tools, und auch er spielt Bass und Gitarre. Am letzten Tag unserer Jams spielte er ein paar Piano-Akkorde in E-Moll, die mir sehr gefielen. Wenig später hatte ich diesen abgedrehten, verminderten E-Moll-Akkord mit einer kleinen Septime anstelle der Terz – und somit weder Dur noch Moll, was dem Akkord seine mehrdeutige und sehr interessante Stimmung verleiht. Daraus entstand der Pre-Chorus des Songs.

Ricky Reed am Mischpult

Wir hatten also eine Akkordfolge und das Tempo. Während Blake etwas zu essen holen ging, schnappte ich mir den Jazz Bass und probierte ein paar Dinge aus. Bei seiner Rückkehr spielte ich ihm eine Bassline vor, und er flippte regelrecht aus. Es gibt ein sehr spaßiges Video, das diesen Moment festhält. Das Grundgerüst des Songs entstand also in nur einer Woche. Die Chorus-Melodie kam mir irgendwie bekannt vor – und richtig, es war Hey DJ von The World’s Famous Supreme Team. So etwas passiert. Wir freuten uns, dass wir sie als Co-Autoren mit ins Boot holen konnten.

An den Texten und der Melodie arbeiteten wir ungefähr zwei Monate. Das sind die tragenden Elemente des Songs, und wir haben zahllose Sessions damit verbracht. Lizzo wollte absolut sichergehen, dass ihr Statement korrekt rüberkommt. Es geht im Song um die Erkenntnis, dass Medien und Firmen absichtlich unsere Ängste schüren, um uns zu manipulieren und zudem viel Geld damit zu verdienen. Als wir diesen Song schrieben, befanden wir uns mitten in der Covid-Krise und in Europa brach gerade der Ukraine-Krieg aus …

Es war faszinierend zu sehen, wie ernst ihr dieses Thema war. Sie erklärte: ‚Ich will aussprechen, was sonst keiner sagen will.’ Auch wenn der Song mit seiner spaßigen Party-Atmosphäre sehr viel positive Energie besitzt, entgeht doch niemandem, so glaube ich, der ernste Hintergrund.“

Auch über Coldplay, den letzten Song des Albums, äußert sich Ricky regelmäßig in Interviews: „Er ist stark inspiriert von einem Song namens Sudden Death von Quelle Chris & Chris Keys. Das ist einer der Songs, die ich während der finstersten Covid-Zeit rauf und runter gehört habe – absolut bewegend und kraftvoll! Als Lizzo zum ersten Mal mein Demo hörte, konnte sie nicht spontan darauf singen. Also startete sie zuerst eine zehnminütige Spoken-Word-Performance über Verletzlichkeit in der Liebe und unternahm dann einen Ausflug, bei dem sie ununterbrochen Coldplay hörte.

Ricky Reed, schwarz weiß

Ein paar Monate später trafen wir uns, und ich zeigte ihr, wie ich zwischenzeitlich ihren Text in Songform gebracht und um ein Coldplay-Sample ergänzt hatte. Das ist übrigens einer meiner weiteren Lieblings-Tricks: mit dem Naheliegendsten zu arbeiten! Lizzo ging in die Gesangskabine und vollendete den Song in gerade einmal drei oder vier Stunden – mitsamt aller Doppelungen, Harmonien und Ad Libs! Dieser Song ist für mich bis heute das tollste Stück Musik, an dem ich bisher gearbeitet habe.“

Ricky würde hier sicher hinzufügen, dieser Song sei zudem der Inbegriff seiner Suche nach musikalischer Klarheit, Ehrlichkeit und beeindruckendem Klang.

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