Nick Launay, der Jedi-Ritter unter den Produzenten
von Paul Tingen; Übersetzung: Matthias Fuchs,
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Der britische Produzent und Mix-Engineer steht bei Ausnahmekünstlern wie etwa Nick Cave hoch im Kurs. Hier berichtet er über die Kraft des musikalischen »Vibes« und wie er diesen in seiner vierzigjährigen Karriere immer wieder gesucht, gefunden und genutzt hat.
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»Ich hatte das Glück, mit vielen Bands arbeiten zu dürfen, denen ihre Musik wirklich alles bedeutet «, sagt der Ausnahmeproduzent, Engineer und Mixer Nick Launay. »Bands, die voller Leidenschaft und absolut kompromisslos ihre ureigene Vision in Form einer Platte verwirklichen wollen und sich dabei nicht selten am Rand von Selbstaufgabe und Wahnsinn bewegen. Offenbar habe ich die Gabe, solch obsessive Künstler anzuziehen. Und wenn man es schafft, einen Draht zu ihnen herzustellen, in ihre Welt einzutauchen, dann können absolut unglaubliche und fantastische Alben entstehen.« Nick Cave, Johnny Lydon, Lou Reed, Kate Bush, Michael Hutchence und David Byrne sind nur ein paar dieser obsessiven Künstler, mit denen Nick Launay in seiner langen Karriere zusammengearbeitet hat. Dabei leistete er Geburtshilfe für eine Vielzahl von außergewöhnlichen Aufnahmen mit Bands wie etwa The Birthday Party, Public Image Ltd, Killing Joke, Midnight Oil, Talking Heads, Arcade Fire, INXS, die Yeah Yeah Yeahs und viele mehr. »Die musikalischen Genres sind zwar sehr unterschiedlich «, sagt Nick. »Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, die all diese Musiker mit meiner Arbeit verbinden, nämlich Leidenschaft und Emotion. Aufnehmen und Produzieren ist, als ob man einen musikalischen Rausch einfängt. Die Leute fragen mich, warum die Alben, an denen ich mitgearbeitet habe, so stimmungsvoll und emotional klingen und den Hörer mit auf eine Reise nehmen. Ich sage dann, dass du deine Frage gerade selbst beantwortet hast. Denn genau das ist es, was ich einem Album mit auf den Weg geben möchte! Ich bin vor allem deshalb Musikproduzent geworden, weil ich die Stimmungen und Gefühle der Künstler einfangen möchte. Klar weiß ich eine ganze Menge über die technische Seite einer Plattenproduktion. Über Mikrofonauswahl und Positionierung, über Preamps, Effekte usw. Was es aber wirklich möglich gemacht hat, über viele Jahre in diesem Beruf erfolgreich zu sein, ist die Leidenschaft und Liebe für die emotionale Intensität und die rebellische Kraft der Musik.«
Die Schlüssel …
… zu Nicks Karrierestart in den Jahren 1981/82 sind zweifellos seine Liebe zur Musik, Leidenschaft und rebellische Kraft. Während dieser Zeit nimmt er so unterschiedliche Alben wie The Flowers of Romance von Public Image Ltd, What’s THIS for…! von Killing Joke, 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1 von Midnight Oil sowie die Singles To Hell With Poverty! von Gang of Four, Release the Bats von The Birthday Party und Earthbeat von The Slits auf. Darüber hinaus engineert er große Teile von Kate Bushs The Dreaming. Eine höchst beeindruckende und gleichzeitig ungewöhnliche Credit-Liste – ganz besonders wenn man bedenkt, dass Nick sich zu dieser Zeit noch ganz am Anfang seiner Karriere befand und noch vieles zu lernen hatte. Ein Umstand, der den Aufnahmen jedoch sehr gut bekam, wie Nick im Folgenden erklärt: »Ja, 1981 war ein total irres Jahr – das beste, das ich jemals hatte! Ich hatte das Glück, genau im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein, nämlich im legendären Londoner Townhouse Studio 2. Dort gab es all diese spannenden Spielzeuge, und ich konnte mich daran austoben. Was ich dabei genau tat, lernte ich erst später. Ich war und bin kein Musiker – mich treibt einzig und allein die Leidenschaft zur Musik. Und ich wollte die Kraft und Energie der Künstler, mit denen ich zuvor live gearbeitet hatte, einfangen und auf das Band bringen. Das war mein großes Ziel. Rückblickend kann ich sagen, dass meine anfängliche, fachliche Unbedarftheit den Aufnahmen sehr gutgetan hat. Je mehr ich über die technische Seite lernte, je genauer ich wusste, wie man einen guten Klang erzielt, desto schlechter wurden die Alben. Ende der Achtziger gab es ein paar wirklich glanzlose Produktionen, weil ich mich einfach zu sehr auf die technische Seite beschränkt hatte. Klar war das irre spannend, sich mit den neuesten Wundermaschinen zu beschäftigen – aber die Musik hat das nicht wirklich weitergebracht.
Als ich Ende der 80er Vater wurde, musste ich eine Pause einlegen. Das war gut so, denn nun hatte ich die Möglichkeit, Abstand zu meiner bisherigen Arbeit zu gewinnen. Dabei erkannte ich, dass meine frühen Aufnahmen – als ich von der Technik noch keinen rechten Plan hatte – vielfach mehr Substanz aufwiesen. So wurden die 90ger und frühen Nuller-Jahre zu einer Art Neustart für mich. Dabei entstanden endlich wieder großartige Aufnahmen u. a. mit den Talking Heads, Silverchair, Girls Against Boys und The Veils. Außerdem begann ich, erneut mit Nick Cave zu arbeiten.
In den Neunzigern wurde die Musik wieder rebellischer, kantiger und vor allem emotionaler. Die seinerzeit aufstrebende Grunge-Welle zeigte das deutlich. Für mich war das eine Rückkehr zu meinen Wurzeln – zu Gefühl und Stimmung. Eine wirklich gute Platte befördert dich in eine andere Welt, raus aus deinem öden Alltag. Zumindest ändert sie die Stimmung in deiner Umgebung – ganz besonders beim Lockdown (lacht). Es ist, als ob du dir einen tollen Film anschaust: Du vergisst alles um dich herum. Das ist genau das, was eine gute Platte ebenfalls schaffen sollte!«
Der Werdegang
Um Nicks besonderes Verhältnis zur Technologie zu verstehen, muss man ein wenig über seine Kindheit und seine abenteuerlustigen Künstlereltern wissen: »Ich wurde 1960 in London geboren. Als ich 2 war, zogen wir in ein kleines Dorf in der Nähe von Taunton im Südwesten Englands. Als ich 8 war, unternahmen meine Eltern einen wirklich abenteuerlichen Schritt: Sie packten alles zusammen, und wir zogen in ein kleines südspanisches Bergdorf unweit von Malaga. Sie hatten dort eine ehemalige Seifenfabrik gekauft – eine totale Ruine. Aber sie setzen umgehend Dach, Strom- und Wasserversorgung instand und machten sie bewohnbar. Mein Vater ist Franzose und Schriftsteller, meine Mutter war ein erfolgreiches Model und danach Malerin. Sie ist Engländerin mit französischen Vorfahren. In Spanien führten beide offenbar ein sehr hippie’eskes, bohemisches Leben. Unser Haus war immer voll mit anderen Künstlern, Schriftstellern, Malern. Rund um die Uhr waren mindestens ein Dutzend Leute zu Gast, irgendwer schmiss Farbe auf eine riesige Leinwand, aus der Stereoanlage brüllten die Rolling Stones, und alle waren ordentlich dichgeraucht.«
So ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch Nick sich vom Durchschnitt wenig angesprochen fühlt. Seine ersten Annäherungen an die Musikproduktion sind entsprechend unorthodox: »Mein Vater besaß eine Grundig Tonbandmaschine, mit der er Interviews für seine Bücher aufnahm. Sie gehörte zu meinen Lieblingsspielzeugen. Irgendwann bastelte ich mir eine Tonbandschleife, auf der ich das Percussion-Intro von Sympathy for the Devil aufnahm. Das überspielte ich auf einen Kassettenrecorder und dann zurück auf die Grundig, zusammen mit den Mono-Vocals von Rubber Soul der Beatles. Das war möglich, weil sie ganz auf die rechte Seite gepannt waren. Das Tempo des Plattenspielers manipulierte ich dabei mit der Hand, sodass der Stones-Rhythmus und die Beatles-Vocals einigermaßen synchron liefen. Ich muss damals 9 oder 10 gewesen sein…«
1976 zieht die Familie wieder zurück nach England. In London explodiert gerade der Punk – für den 16-jährigen Nick der ideale Ort und der passende Moment, um in der Musikszene Fuß zu fassen. »Man wäre ja eigentlich immer gerne jünger, aber ich bin echt froh, 1960 geboren worden zu sein. Das war perfektes Timing: So konnte ich den gesamten Rock’n Roll-Zirkus der 60er und 70er miterleben. 1978 ergatterte ich einen Job in den Tape One Studios und editierte dort u. a. Songs für die bekannten K-Tel Compilation-Alben.« Einer dieser Edits – die 12-Zoll-Version von Ms Pop Muzik, von Nick zunächst nur spaßeshalber erstellt – begeistert den Sänger Robin Scott so sehr, dass der Edit als Maxi-Single veröffentlicht wird. Wenig später findet sich selbige auf den Nummer-1-Positionen in den USA, England und Australien. 1980 wechselt Nick zu den von Virgin Records betriebenen Townhouse Studios und arbeitet dort als Assistent für große Namen wie John Leckie, Steve Lillywhite und Hugh Padgham.
Wie es der Zufall will, wird Nick 1981 für eine Aufnahme-Session mit einem gewissen John Lydon und seiner Band Public Image Ltd. eingetragen. Lydon ist von Nick so begeistert, dass er den eigentlichen Produzenten des Studios verweist und ausschließlich mit Nick arbeiten will. Letztlich übernimmt Nick Aufnahmen, Mix und Koproduktion des Albumklassikers The Flowers of Romance. Der klangliche Einfallsreichtum des Albums bleibt nicht unbemerkt, und Nicks Telefonnummer verbreitet sich schnell in Londons Musikszene. Der Durchbruch ist geschafft. Auch wenn es auf technischer Seite noch viel zu lernen gibt und der damalige Wochenlohn bei bescheidenen 28 Britischen Pfund liegt, profitiert Nick von den zahlreichen Gelegenheiten, echten Größen bei ihrer Arbeit an legendären Alben über die Schultern schauen zu dürfen.
»Als ich im Townhouse anfing, arbeiteten sie gerade an den letzten Sessions zu Peter Gabriels drittem Album. Bei dieser Gelegenheit traf ich Hugh Padgham und Steve Lillywhite. Wenig später hatte ich das Glück, einer der Assistenten für das XTC-Album Black Sea zu sein. Es zählt noch immer zu meinen Lieblingsplatten. Auch hier war Hugh der Engineer und Steve der Produzent. Von diesem Moment an wurden beide zu meinen wichtigsten Lehrern – wofür ich immer dankbar sein werde. Ebenfalls großen Einfluss auf meine Arbeit hatten Brian Eno und Tony Visconty, auch wenn ich leider nie Gelegenheit hatte, mit ihnen zu arbeiten.«
Nicks Engagement in Townhouse bedeutet für ihn den endgültigen Karrieredurchbruch und leitet den oben erwähnten Höhenflug in den frühen 80ern ein. Es folgen viele weitere, sehr erfolgreiche Projekte, dann die weniger kreative Phase gegen Ende des Jahrzehnts und schließlich seine »Wiedergeburt« in den 90ern. Seitdem ist die Erfolgskurve nicht mehr abgerissen. Nick arbeitet mit den Yeah Yeah Yeahs, mit Supergrass, Arcade Fire, Lou Reed, Maximo Park, Anna Calvi, IDLES, Shakespeare’s Sister und Grinderman. Ganz besonders bemerkenswert ist jedoch seine Mitarbeit an einigen der erfolgreichsten Alben von Nick Cave and the Bad Seeds: Abattoir Blues/The Lyre of Orpheus, Dig, Lazarus, Dig!!!, Push The Sky Away und Skeleton Tree.
Nick Launay mit den
Bad Seeds 2012 im
La Fabrique
Nick im Porteshead Studio bei der Arbeit an Tracks für Anna Calvi
Nick im Sunset Studio
Die Wohlfühlzone.
Nick Cave gilt als der Prototyp des charismatischen und besessenen Musik-Junkies schlechthin – also genau der Typ Künstler, mit dem Nick bevorzugt arbeitet. Die beiden sind zweifellos Brüder im Geiste und unterstellen technische Perfektion jederzeit einer mitreißenden Performance. Nicks Arbeit mit Nick Cave and the Bad Seeds gilt als eines der Highlights seiner langen Karriere und bietet immer wieder Gelegenheiten, all sein Wissen um die emotionale und technische Seite der Musikproduktion einzubringen.
»Vor jeder Session sorge ich geradezu penibel dafür, dass die Musiker sich keinerlei Gedanken über die Technik machen müssen«, erzählt Nick. »Sie sollen sich voll und ganz in ihre Musik fallen lassen. Ich überlege mir also genau, wie das Schlagzeug aufgebaut wird, wo Amps und Mikrofone aufgestellt werden, wie die Kopfhörer klingen sollen usw. Mit Nick [Cave] funktioniert die Sache so: Wenn ich mit seinem Personal-Manager abgesprochen habe, dass die Aufnahmen am 1. August beginnen sollen, gehe ich schon ›heimlich‹ am 29. Juli ins Studio, um alles perfekt aufzubauen. Wenn Nick auftaucht, marschiert er nämlich direkt zum Piano und beginnt zu spielen. Dann ist keine Zeit mehr, sich über Mikros Gedanken zu machen. Der Drummer erscheint schon an meinem Aufbau-Tag, und wir arbeiten gemeinsam am Sound. Eine typische Mikrofonierung wäre ein Beyer Dynamik M88 mit reichlich Low-End-EQ für die Kick, ein Shure SM57 oder Unidyne 57 für die Snare, AKG 141 auf den Toms, Neumann KM 84 für die Overheads, Schoeps 402 Pencil-Mikro auf der Hi-Hat sowie, nicht zu vergessen, die Raummikrofone. Das kann ein Neumann M87 und ein Röhrenmikro wie das Bock 507 oder AKG C12 sein – in jedem Fall mit kräftiger Kompression versehen. Im Idealfall gehen alle Mikros durch Neve 1081-Preamps. Habe ich davon nicht genügend da, verwende ich sie zumindest für Kick, Snare und Hi-Hat. Die übrigen Signale schicke ich auf die Kanäle des gerade vorhandenen Mischpultes.
Die weiteren Musiker erscheinen ebenfalls frühzeitig, um den Sound ihrer Instrumente einzustellen. Gitarren-Amps mikrofoniere ich gern mit einem Beyer Dynamic M88 als Close-Up und einem Röhrenmikro für den Raum. Erste Wahl beim Bass-Amp können ein Sennheiser 412 Close-Up und etwas wie ein Shure SM57 als Raummikro sein. Singt der Pianist – so wie Nick es tut –, platziere ich zwei AKG C12B im Piano und schließe den Deckel, um ein Übersprechen vom Gesang zu verhindern. Für Nicks Vocals bevorzuge ich das Neumann M49.
Vor jeder Session nehme ich mir grundsätzlich sehr viel Vorbereitungszeit, um den bestmöglichen Sound und minimales Übersprechen zu gewährleisten. Wenn wir mit den Bad Seeds arbeiten, reisen die Musiker aus den verschiedensten Teilen der Welt an. Schließlich kommt Nick hinzu und präsentiert seine Songs, die noch niemand zuvor gehört hat – und schon ein paar Takes später sind sie im Kasten …«
Der Arbeitsplatz
Wie zurzeit üblich, nutzt auch Nick bei seiner Arbeit mit den Bad Seeds eine Mischung aus analogem und digitalem Equipment. Pro Tools bietet ihm dabei Vorzüge, von denen man um 1980 nur träumen konnte. Im Laufe seiner Karriere hat Nick sämtliche technischen Entwicklungen miterlebt: Mehrspurmaschinen und riesige Mischpulte, das Aufkommen von Hardware-Samplern und Drummaschinen, Digital-Recording und schließlich den aktuellen In-the-Box-Workflow. An seiner Vorliebe für analoges Equipment hat sich über die Jahrzehnte jedoch nur wenig geändert:
»Bis 2010 habe ich fast ausschließlich mit Analog-Tape gearbeitet! Editiert wurde mit der Rasierklinge, manchmal bis zu 30 Schnitte pro Song – nicht um der Perfektion willen, sondern um den bestmöglichen Vibe zu erzielen. Jetzt schneide und editiere ich mit Pro Tools. Wenn ich dem Sound einen besonderen Charakter verleihen will, nutze ich dazu nach wie vor analoge Geräte. Will ich den Sound aufräumen, also etwa störende Frequenzen oder Noises entfernen, mache ich das in Pro Tools. Es kann durchaus passieren, dass ich einen vollständigen Vocal-Take ein wenig verschiebe – wenn es dem Vibe das Songs zuträglich ist. Ich nutze Pro Tools jedoch nie, um technisch perfekte Aufnahmen zu erzeugen, also um etwa die Intonation zu korrigieren oder Drums in ein Raster zu pressen. Die Aufnahme selbst muss stimmen! Und da liegt meine Aufgabe als Produzent: aufnehmen, die besten Takes finden und sie bearbeiten. Dafür ist Pro Tools ein erstklassiges Werkzeug. Die wichtigsten Backing-Tracks – vor allem Drums – nehme ich tatsächlich noch immer analog auf. Dann überspiele ich sie mit 96 kHz in Pro Tools. Ich finde es seltsam, dass es noch Leute gibt, die akustische Instrumente mit weniger als 96 kHz aufnehmen. Warum? Es kostet nichts, und die Vorteile einer hohen Sampling-Rate liegen auf der Hand. Bei elektronischer Musik fällt der Unterschied nicht ins Gewicht, aber akustische Aufnahmen erhalten definitv mehr Tiefe, Raum und Vibe. Wenn mein Rechner mehr Dampf hätte und nicht zahlreiche Plug-ins streiken würden, würde ich schon längst mit 192 kHz aufnehmen.«
Nicht jeder scheint den Unterschied zwischen verschiedenen Sampling-Raten sowie digitalen oder analogen Aufnahme hören zu können. Nick sieht die Ursache in den Hörgewohnheiten: »Die Leute hören falsch: Sie achten vor allem auf Höhen und Bässe, obwohl da die Unterschiede am wenigsten auffallen. Sitzt du im Sweetspot deiner Monitore und konzentrierst dich auf den Sound, sind die Unterschiede tatsächlich marginal. Hörst du dagegen einen Song im Ganzen und entfernst dich dabei auch einmal von deinen Lautsprechern, wirkt der Sound letztlich anders auf dich. Er besitzt einfach mehr Tiefe. Das gilt für den Unterschied sowohl zwischen Analog und Digital als auch zwischen 44,1 und 96 kHz. Das ist ein bisschen wie bei den Jedi Rittern: ›Fühle den Sound!‹ Analoger Klang füllt den Raum, hat eine gewisse Wärme, Präsenz und Körperlichkeit. Ein breiter Frequenzgang ist dabei nicht das Entscheidende. Digitaler Sound übersetzt die Frequenzverhältnisse in Zahlenwerte, und das macht er perfekt. Die Tiefe, die Emotion und der Vibe des Sounds gehen in diese Umrechnung jedoch nur unvollständig ein.«
Nicks Vorliebe …
… für eine analog-digitale Arbeitsweise ist recht typisch für Produzenten mit einem ähnlichen Karriereverlauf. Nach seinem Umzug nach Los Angeles im Jahr 2002 hat Nick für 15 Jahre die Möglichkeit, das Seedy Underbelly – eines der besten Analog-Studios von LA – für seine Arbeit zu nutzen. Nach dem überraschenden Ableben des Betreibers schließt das Seedy Underbelly leider seine Türen, und Nick ruft ein eigenes Studio ins Leben. Hier soll eine aktualisierte Variante seiner »Best-of-both-Words«-Philosophie umgesetzt werden:
»Im Seedy Underbelly gab es wirklich alles: eine API- und eine Neve-Konsole und die tollste Mikrofon-Sammlung, die ich jemals gesehen habe. Nachdem dieses Studio nun leider Geschichte ist, nutze ich für die Aufnahmen andere Orte in LA mit tollem Vintage-Analog-Equipment – etwa Sunset Sound oder The Village. Overdubs, Editing und Mix mache ich dann in meinem eigenen, kleinen Studio. Es befindet sich in der ehemaligen Garage meines Hauses und hat einen tollen Blick über Hollywood. Ich kann sogar das Gebäude von Capitol Records sehen! Mein aktuelles Setup ist sehr übersichtlich: Ich habe ein Pro-Tools-System mit reichlich Plug-ins, ein Avid HD Omni-Interface mit vier Ein- und Ausgängen sowie ein Bock 507-Mikro mit Neve 1081 und Tube-Tech CL-1B. Ein Paar ältere Adam Audio P22 sind meine absoluten Lieblingslautsprecher. Ihr toll klingender Mittenbereich macht sie perfekt für Rockmusik. Ich habe davon sechs Paare – vier hier in LA sowie eines in Australien und in London. Da es sich um relativ kleine Lautsprecher handelt und ich gerne laut abhöre, muss gelegentlich ein Tieftöner dran glauben. Um einen Austausch-Speaker zu bekommen, muss ich leider ein weiteres Lautsprecherpaar kaufen. Deshalb suche ich auf eBay ständig nach Adam P22.«
Der dramatische Verfall der Budgets…
… für Musikproduktionen ist der Grund, weshalb Nick sein Studio meist für Postproduktion und Mix »zweckentfremdet«: »Im England der 80er-Jahre war es nicht ungewöhnlich, dass eine Newcomer-Band, die bei EMI oder CBS gesigned wurde, für ihr Debutalbum eine gute halbe Million Mark bzw. 200.000 Britische Pfund zur Verfügung hatte. Heute soll ich eine neue Band für 40.000 Euro aufnehmen – mit demselben Anspruch: 12 Songs, die wie von einer ›echten‹ Rockband klingen sollen. Da sage ich nein! Du denkst dir: ›Gott sei Dank habe ich Pro Tools.‹ Warum? Weil du damit Aufnahmen geradebiegen kannst, die mit schlecht klingenden Mikros in schlecht klingenden Räumen gemacht wurden. Aber das nervt! Glücklicherweise bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich mir Dinge aussuchen kann, die mir Spaß machen und meine Leidenschaft wecken. Ich muss nicht jeden Job annehmen. Rund 80.000 Dollar Budget für ein ganzes Band-Album ist eine Größenordnung, in der sich etwas Ordentliches auf die Beine stellen lässt. Das reicht für Vorproduktion und zweiwöchige Aufnahmen in einem guten Studio, mit tollen Röhrenmikros, einem guten Pult, API- und Neve-Preamps und guten Kopfhörern – aufgenommen mit 96k. Alles Weitere kann ich zu Hause erledigen.
Mittlerweile mische ich tatsächlich vollständig im Rechner – eine Sache, die ich früher nie für möglich gehalten hätte. Mit meinen Plug-ins kann ich so ziemlich jede Klangvorstellung verwirklichen, ganz genau so, wie ich es in der analogen Welt getan hätte. Die Sachen von UAD oder SoundToys klingen einfach hervorragend. Toll sind auch die Slate Audio Plug-ins – da lässt sich für jeden Kanal ein anderer Pult-Sound wählen. Das FabFilter-Zeug mag ich ebenfalls sehr. Wenn du einen digitalen Mix auf richtig guten Lautsprechern hörst, fehlt möglicherweise dennoch ein wenig Glanz und Tiefe. Also versuche ich, einen möglichst analogen Sound in der digitalen Welt zu erzeugen. Dazu gehe ich mit meinen fertigen Pro-Tools-Mix-Sessions wieder in ein gutes Analog-Studio, wie etwa Sunset Sound oder Sphere, und schicke alles durch deren Pult. Im Stereobus befinden sich dann ein Paar EAR(660; Anm.d.Red.)-Kompressoren. Der EAR-Kompressor wurde von Tim de Paravicini entwickelt und ist unglaublich teuer – um die 8.000 Euro pro Stück. Aber es lohnt sich, wie ich finde. Der Klang wird dadurch erheblich verbessert. Seit Kurzem verwende ich auch einen Kush Audio Clariphonic EQ im Stereobus. Der verbessert ebenfalls Tiefe und Vibe. Wie schon gesagt: Entscheidend ist, wie der Hörer die Musik empfindet. Mich interessiert nicht, was gerade Mode oder im Radio angesagt ist – was zählt, ist einzig, dass die Musik den Hörer berührt.«
Oder, wie schon die Jedi Ritter aus Star Wars wussten: »Dein Fokus bestimmt deine Realität.«
Die bisher nicht erzählte Geschichte von Talking Heads’ Last Stand
1991 produzierte Nick Launay mit David Byrne in New York einige Songs, aus denen später dessen drittes Soloalbum Uh-Oh werden sollte. Die Talking Heads hatten seit 1988 Pause – und Naked sollte ihr achtes und letztes Album bleiben. Offensichtlich hatten Byrne und die Band keinerlei Kontakt mehr zueinander. Die Trennung der Talking Heads wurde jedoch erst 1991 offiziell. Als Byrne eines Tages mit einer recht überraschenden Anfrage an Nick herantritt, ist sich dieser den Spannungen in der Band sehr wohl bewusst: »Die Talking Heads zählen zu meinen absoluten All-Time-Favorites. Als mich David fragte, ob ich sein Soloalbum produzieren würde, sagte ich natürlich begeistert zu. Ich traf ihn in London. Er ist wirklich ein faszinierender Mensch mit außergewöhnlichem Charakter. Er bringt gleich drei komplette Texte für einen Song mit ins Studio – andere schaffen nicht einmal einen vollständigen Text … Zudem ist er einer der besten Rhythmus-Gitarristen überhaupt und verfügt über eine unverwechselbare Stimme und enorme Bühnenpräsenz – ein wirklich außergewöhnlicher Künstler.
Im New Yorker Sommer 1991 arbeiteten wir also an seinem Soloalbum Oh-Uh. David ist bekannt für seine charmante, aber bisweilen umständliche Form der Kommunikation. Eines Tages kam David ins Studio und wirkte sehr unruhig. Offensichtlich wollte er mir etwas mitteilen, traute sich jedoch nicht. Ich fragte, ob alles ok sei. Er sagte: ›Naja … ich habe dich in etwas einbezogen, ohne dich vorher zu fragen.‹ Nach etwas Drängelei verriet er schließlich: ›Hm … naja … da ist diese andere Band, mit der ich spiele. Auch wenn ich jetzt mein Soloalbum mache, muss ich mit denen ein paar Songs aufnehmen – und ich habe versprochen, dass du sie produzierst.‹ Ich fragte ihn, welche Band das wäre, und dachte zunächst an irgendein anderes Side-Project. Und David entgegnete: ›Naja … hmm … sie heißen Talking Heads …‹ Ich dachte, er mache Witze – immerhin ist das meine absolute Lieblings-Band – und versuchte, einigermaßen ruhig zu bleiben. ›Klar‹, sagte ich, ›ist vollkommen ok für mich, mit den Talking Heads zu arbeiten.‹ Am nächsten Tag brachte er tonnenweise Tapes und CDs mit unveröffentlichten Talking-Heads-Aufnahmen ins Studio und fragte, ob ich mir alles ›mal eben‹ übers Wochenende durchhören könne.
Die Sache sah so aus: Die Plattenfirma wollte neues Material für ein Greatest-Hits-Album. Aber eigentlich existierte die Band gar nicht mehr – nur wusste das noch niemand. David hatte sich ausgeklinkt und redete nicht mehr mit den anderen. Für ihn waren die Talking Heads erledigt, er wollte weiter und neue Musik erfinden. Das war vollkommen selbstverständlich für ihn. Aber neue Talking-Heads-Songs? Dafür konnte man ein paar alte Outtakes fertigproduzieren. Und das sollte meine Aufgabe sein. Ich arbeitete mich also im Schnellgang durch diese musikalische Schatztruhe – einige der Songs waren wirklich erstklassig, darunter etwa Gangster of Love, ein Überrest von Speaking in Tongues oder Lifetime Piling Up aus den Blind-Sessions. Ich schnappte mir ein Telefon und rief die anderen Talking Heads an. Interessanterweise spürte ich keinerlei Ärger oder Unverständnis – eher eine Art leichtes Bedauern darüber, so lange nichts voneinander gehört zu haben.
Ich entschied mich schließlich für drei Songs, bestellte die Mehrspurbänder und buchte einen Studiotag im Sears Sound. Der Band sagte ich: ›Wir sollten das umsichtig und gezielt angehen, denn wir haben nicht viel Zeit.‹ Alle erklärten sich bereit, und zu meiner Überraschung funktionierte es bestens! Alle waren motiviert, geradezu euphorisch, und wir hatten richtig Spaß. Unglaublich: Für die Welt da draußen waren die Talking Heads Geschichte, und ich stand hier im Studio mit meiner gesamten Lieblings-Band und nahm Songs auf …
Die Songs wurden umfassend überarbeitet. David schrieb neue Texte und nahm die Vocals auf. Dazu kamen zahlreiche neue Keyboard-, Gitarren-, Bass- und Drum-Parts. Lifetime Piling Up, produziert von Steve Lillyewhite, war am vollständigsten. Hier gaben wir dem Song nur einen neuen Mittelteil. Mir oblagen Edit und Arrangement für einige der Songs. Stell dir vor, was für ein Erlebnis: Deine Lieblings-Band bittet dich um deine Mitarbeit – zu einem Zeitpunkt, als du sie schon für abgehakt gehalten hattest …«
Nick Launays Hardware-Tools für die einsame Insel
Esoteric Audio Research 660 Compressor: »Der EAR-Kompressor ist absolut notwendig, um einem Mix Tiefe und Vibe zu verleihen.«
Neumann M49: »Mein Lieblings-Gesangsmikro. Ich verwende es praktisch für alles. Mir gefällt der riesige Frequenzgang sowie ganz besonders seine Eigenschaft, die Mitten wie ein dynamisches Mikro anzuzerren. Im Gegensatz zu anderen tollen Mikrofonen, wie etwa dem AKG C12 oder einem Telefunken Ela M 541, hat das M49 ›Grid‹. Das passt perfekt zu Sänger*innen wie Nick Cave oder Anna Calvi. Eigentlich passt es zu jedem/jeder Sänger*in. Singt jemand richtig laut, verzerrt es wunderschön.«
Neve 1081 Micpre/EQ: »Für mich der beste Micpre überhaupt. Der 1073 ist zwar Class A, während der 1081 Class A/B ist – aber leider gibt mir der EQ des 1073 zu wenig Kontrolle über die Höhen. Sein Höhenband ist auf 10 kHz festgelegt. Das reicht nicht, um Zischlaute oder Ähnliches zu entfernen. Der 1081-EQ lässt sich dagegen auf 15 kHz umschalten.«
Tube-Tech CL-1B Kompressor: »Wirklich toll für Gesang, aber auch für Drums. Er reagiert sehr schnell – fast wie ein Urei 1176. Der 1176 betont jedoch sehr stark die Zischlaute im Gesang. Er erzeugt massenweise hohe Frequenzen und angezerrte Mitten, die man nicht wieder loswird. Der Tube-Tech klingt viel weicher und fetter. Mit einer 3:1-Ratio, dem 1081 und dem M49 bildet er meine perfekte Vocal-Kette.«
Beyer Dynamik M88: »Super billig – ich glaube etwa 200 Dollar – und für fast alles geeignet. Mit seinem sehr kräftigen, aber konturierten Low-End eignet sich das M88 bestens für Kick-Drums. Man bemerkt es zunächst gar nicht so sehr, kann es jedoch gut mit dem EQ betonen, und schon hat man einen 808-ähnlichen Sound. Aber auch mit bestimmten Vocals funktioniert es sehr gut – etwa bei Punk-Rock. Die Höhen klingen sehr sauber. Das M88 ist die europäische Version des Shure SM57. Im Vergleich klingt das M88 jedoch weniger mittig, hat saubere Höhen und ein viel besseres Low-End.«
Lick Launeys Lieblings-Plug-ins
Meine bevorzugten Plug-in-Hersteller sind SoundToys und UAD. Die UAD-Sachen sind wirklich ein Segen, denn sie ermöglichen es mir, mich im Rechner nahe genug an die analoge Klangwelt anzunähern. Sie liefern nicht ganz dieselbe Tiefe, aber es funktioniert sehr gut.
Die SoundToys Plug-ins sind ebenfalls großartig. Der Decapitator ist ein super Verzerrer mit fünf unterschiedlichen Distortion-Varianten – toll für Vocals. Du willst es kantiger haben? Bang – fertig! Chrystallizer und EchoBoy Jr verwende ich ebenfalls sehr oft. Letzterer ist ein guter Ersatz für mein [Roland] 301. Nicht zu vergessen der Devil-Loc: Ich packe ihn gerne auf den Drum-Hall. So klingt es ähnlich wie ein SSL Kompressor mit Distortion, aber noch besser.
Meine Lehrzeit habe ich an einem SSL B-Serie-Prototypen verbracht – genau das, welches Hugh Padgham für den Drum-Sound von Phil Collins’ In The Air Tonight verwendete. Er hat dazu das Pult überfahren und mit dem Kompressor gearbeitet. Eigentlich ist das SSL-Pult ein furchtbares Teil, sobald du es aber kräftig überfährst, klingt es toll. Du musst wissen, wie es sich verhält und was du damit anstellen kannst. SSL Plug-ins nutze ich jedoch nicht. Wenn ich Distortion brauche, verwende ich den Decapitator oder den Devil-Loc. Die SSL Plug-ins für Pro Tools klingen mir zu weich.
Sehr nützlich ist der Avid Standard-EQ mit Namen »7-Band«. Man kann sehr präzise mit ihm arbeiten. Ich nutze ihn als Notch-Filter und beseitige damit störende Frequenzen, besonders im Mittenbereich. Dadurch wird der Gesamt-Sound deutlich offener.
Der De-Esser und die Pro-Q2/3 EQs von FabFilter sind super. Die EQs klingen sehr sauber und transparent. Mixe ich im Rechner, verwende ich gerne den L-2 Limiter, um dem Masterbus Sättigung zu geben. Im finalen Mix wird der L-2 dann gegen die EARs ausgetauscht.
Mit dem Slate Audio Plug-in simuliere ich ein Analogpult. Da APIs meine Lieblingspulte sind, verwende ich meist die »API«-Einstellung. Während meiner Lehrzeit an einem SSL-Pult bemerkte ich, das da ein wenig Tiefe fehlt. Als ich anfing, mit Neves und APIs zu arbeiten, erkannte ich, wie groß und fett die Kombination aus guten Mikros und einem wirklich tollen Pult klingen kann. Ich mixe sehr gerne auf Neve-Pulten, aber manchmal ist da zu viel des Guten – es kann fast ein wenig zu fett und damit leicht schwammig klingen. Die APIs haben dagegen etwas mehr Präsenz im Sound.