Seit Ende August ist der computeranimierte Film »Happy Family« in den Kinos, zu dem Hendrik Schwarzer von Orchestral Tools die Filmmusik komponiert hat. Doch wie entsteht eigentlich die Filmmusik, bevor sie im Studio aufgenommen und produziert wird? Schwarzer und Engineer Tom Rußbüldt erzählen, welche Techniken beim Komponieren und später im Studio verwendet wurden.
Wir interessieren uns hier für das Wesentliche − für das, was der Standard-Rezipient oft nur unterbewusst wahrnimmt: die Filmmusik. Komponist Hendrik Schwarzer und Recording-Engineer Rußbüldt haben mit uns über den Schaffensprozess der Musik zu Happy Family gesprochen. Von der ersten Note bis zu Techniken im Tonstudio erklären sie uns, wo die Herausforderungen liegen und was für sie gute Filmmusik ausmacht.
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Mit dem Unternehmen Orchestral Tools kann Schwarzer bereits einige Erfolge verbuchen, die er meist in Zusammenarbeit mit dem Animationsstudio Ambient Entertainment und Regisseur Holger Tappe im Auftrag für den Europa-Park produziert hat. Diese Zusammenarbeit war auch die Grundlage für Happy Family, der nun allerdings unter der Schirmherrschaft von Warner Bros. erschienen ist.
Auch in Sachen Aufnahmestudio sind sie Wiederholungstäter geworden: »Der Saal im Teldex Studio in Berlin klingt ausgeglichen und fügt dem Ganzen noch ein charmantes Schimmern hinzu, das in besonderer Klarheit und Transparenz aufgeht«, so Schwarzer, und auch Rußbüldt kann dem nicht widersprechen.
Hendrik, »Happy Family« ist ein animierter Film. Gibt es grundsätzlich Unterschiede bei der Komposition für animierte und nicht animierte Filme?
Hendrik Schwarzer: Bei Happy Family ging es besonders um Themen und Motive, weniger um Sounddesign. Das Schöne daran ist, dass man mit Klischees arbeiten darf; ich versuche, diesen aber auch immer etwas Eigenes hinzuzufügen. Speziell bei diesem Film ging es dem Regisseur darum, gewisse Gesten im Score mit Akzenten zu betonen (gemeint ist das sogenannte »Mickey-Mousing«; Anm.d.Red.). Das ist eine Technik, die man aus alten Cartoon-Filmen kennt. Heute wird das in Animationsfilmen nicht mehr so oft gemacht; aber genau das finde ich bei Happy Family so spannend.
Erzähl doch mal etwas über deine grundsätzliche Herangehensweise bei der Komposition von Filmmusik. Gehst du noch den klassischen Weg, dass du für jeden Charakter ein eigenes Thema komponierst?
Ich habe recht früh angefangen, Musik für Theme-Parks und später dann Animations – filme zu schreiben. Das waren alles Produktionen, die einen besonderen Fokus auf Themen und Melodien hatten. Ich beginne meistens am Klavier, entwickle Ideen und feile daran. Manchmal sind das Themen für einen bestimmten Charakter, ein Liebes-Thema oder Ähnliches. Dafür brauche ich am meisten Zeit, da man auch immer die Imagination benötigt, wie das später klingt oder klingen könnte, wenn es das Orchester spielt. Über den Film hinweg entwickeln sich manche Themen auch oder erscheinen in alterierter Form. Das Instrumentieren mache ich dann am Rechner. Das Tolle daran ist, dass man die Ergebnisse gleich hört.
Ich habe über mehrere Jahre mein eigenes Orchester gesampelt, um die Artikulationen und Sounds, mit denen ich arbeite, an den Stil meiner Musik anzupassen. Daraus ist dann auch parallel dazu Orchestral Tools entstanden. Unter diesem Label haben wir eines der größten virtuellen Orchester aufgebaut, das u. a. auch von Hans Zimmer sowie in etlichen Filmproduktionen weltweit verwendet wird. Für mich ist es elementar, Tools zu nutzen, die sich flüssig meinem Workflow und Klangvorstellungen anpassen. Darüber hinaus halte ich es besonders heute für wichtig, gut klingende Mockups (die Vorabversionen aus virtuellen Instrumenten) abzuliefern. Regisseure sind hier zwischenzeitlich eine hohe Qualität gewohnt und vergleichen auch immer mit dem Temptrack, auf den sie anfangs produzieren.
Gab es besondere Herausforderungen bei der Umsetzung im Studio?
Wir hatten uns dazu entschlossen, die großen Themen und emotionalen Stellen mit komplettem Orchester aufzunehmen, viele Underscore-Elemente aber getrennt − also erst Streicher, dann Holz, danach Blech. Das gab uns die Flexibilität, im Editing besser zu schieben oder auch nachträglich z. B. das Blech runterzuregeln, sollte es mit dem sonstigen Sounddesign kollidieren.
Insgesamt hatte ich knapp 100 Minuten Orchestermusik geschrieben, wovon wir 90 mit Orchester aufgenommen hatten, an sechs Aufnahmetagen im Teldex-Studio in Berlin.
Tom Rußbüldt war Recording-Engineer bei den Aufnahmen. Was zeichnet seine Arbeit im Studio besonders aus?
Tom und ich arbeiten seit einigen Jahren zusammen, und es ist wirklich von Vorteil, wenn beide die Vision des fertigen Films und den angestrebten Sound verstehen. Tom hat auch den Soundtrack gemischt und konnte daher schon bei den Recordings gezielt spezielle Mic-Setups benutzen, mit denen er dann in der Mischung gut arbeiten konnte.
Darüber hinaus habe ich noch keinen Engineer getroffen, der so schnell mit Pro Tools umgehen kann. Innerhalb von Sekunden wechselt er Takes, baut Clicks oder setzt bestimmte Wünsche um. Das ist Gold wert, wenn man bedenkt, was jede ungenutzte Minute mit einem 60-Mann Orchester bedeutet.
Neben Mixing und Engineering betreibt Tom auch die Scoring Berlin GmbH. Darüber bietet er Contracting (die Vermittlung von Orchestermusikern und anderen relevanten Kontakten) an und bezieht Top-Leute aus den großen Berliner Orchestern wie Radio Symphonie Orchester Berlin oder Berliner Philharmoniker. Auch hier hatten wir uns explizit für Bigband-Blech entschieden, um diesen knackigen, amerikanischen Sound einzufangen.
Ich denke, dadurch, dass es ein Film mit Warner Bros. an Bord war und Holger Tappe als Regisseur Musik total wichtig ist, hatten wir ein ganz passables Budget für die Recordings. Das ist bei deutschen Produktionen so nicht üblich. Es ging dem Regisseur besonders darum, einen internationalen Film zu produzieren, der auf dem Top-Level mithalten kann, aber in Europa produziert wurde.
Was macht für dich »gute« Filmmusik aus?
Dass die Musik auf einer eigenen Idee oder einem interessanten Konzept fußt, auch mal etwas wagt und vor allem greifbare Themen beinhaltet. Im besten Fall stellt die Musik eine Art Meta-Ebene dar, die die Story erzählt, in gewissen Situationen sogar ergänzt oder im Kontrapunkt dazu steht. Darüber hinaus liebe ich gute Instrumentierung und interessante Klangfarben und Kombinationen.
Beschreib doch noch mal kurz, wie so ein Kontrapunkt aussehen kann. Und hattest du die Möglichkeit, bei Happy Family diese Technik zu nutzen?
Wenn die Musik im besonderen Gegensatz zu den Bildern steht. Es gibt bei Happy Family diese Szene, in der die Familie unter einem riesigen, künstlich erzeugten Schneeball von Dracula angekettet am Boden liegt. Die Familie blickt ihrem eigenen Schicksal des Erfrierens entgegen, während Dracula siegessicher und erhaben über der Familie von einer ausfahrbaren Plattform aus zu der Familie spricht. Im Gegensatz zu besonders dramatischer Musik – was hier sicher angebracht wäre –, entschloss ich mich dazu, einen besonders schön- und befreiend klingenden Score zu komponieren, der hauptsächlich auf Streichern und einem darüberliegenden Chorsatz basiert. Die Wirkung der Gegensätze verstärkt den Ernst der Situation, ohne aufregend oder dramatisch zu klingen.
Tom, was ist für dich der Unterschied zwischen einer Filmmusik- und einer »normalen« Musikproduktion?
Tom Rußbüldt: Die Tatsache, Musik nie als eigenständiges Medium zu behandeln, wirft immer die Frage in den Raum: Wie schaffen wir ein Zusammenspiel dieser doch vollkommen verschiedenen Welten − Sehen & Hören − zu einem Filmerlebnis?
Es geht nicht nur darum, massive Soundwände zu schaffen, maximal laut zu sein oder gar einen überproduzierten Hi-Fi-Sound zu kreieren. Die Aufgabe ist es, Emotionen, die im Idealfall im Bild schon vorhanden sind, zu verstärken oder nur zu begleiten. Selten hat die Musik die Chance, sich in den Mittelpunkt zu drängen, oder schafft es, für sich alleine zu stehen. Doch schon zu Stummfilm-Zeiten hat man gemerkt, dass Bild alleine nicht glücklich macht. Diese Erkenntnis ist leider noch nicht auf allen Ebenen der Produktionskette angekommen, sodass wir schauen müssen, wie man die Musik durch einfache Mittel besser im Film platzieren kann.
Es beginnt schon im Kompositions- und endet dann im Mischprozess, dass Sound Effekte (SFX) und Dialoge nicht einfach ignoriert, sondern bedacht werden. Wir versuchen dabei, die Musik schon so abzugeben, dass viele dynamische Fahrten bereits in unserer Mischung vorhanden sind. Denn gerne wird die gesamte Musik sonst erst mal pauschal leiser gemacht, nur um das Herumgestampfe im Bild nicht zu übertönen!
Auch die Musik nicht zu Hi-Fi-mäßig anzulegen, lässt die Chancen steigen, dass sie sich besser durchsetzen kann, nicht nur weil viele der SFX super knallig und tieffrequent sind. Der Höreindruck höhenlastiger Mixe ist im Verhältnis zu Dialog und SFX schnell zu laut und penetrant, deshalb wird die Musik häufig erst mal grundsätzlich runtergezogen und klingt dadurch sehr dünn.
Die Mischung der Soundtrack-/CD-Version kommt dann der »normalen« Musikproduktion wieder näher, weil es dabei wieder rein um das Hörerlebnis der Musik geht.
Erzähl doch mal bitte, welche Mikrofone du für welche Instrumente benutzt hast, und warum genau diese für euch gut funktioniert haben.
Das, was 70 bis 80 % des Sounds ausmacht, sind im Grunde die Hauptmikrofone, bestehend aus Decca-Tree (Neumann M50), den zusätzlichen Outriggern (M50) und den Surrounds (M50). Alle Spotmikrofone sind mehr oder minder aus geschmacklichen Gründen so gewählt. Ich bevorzuge zum Beispiel für die ersten Pulte der Streicher die Neumann U67 Tube und für die weiteren standardmäßig KM84 oder DPA 4011.
Beim Brass setze ich alles zwischen Coles bis U47 FET oder Tube oder Sennheiser MD 441 ein. Die Wahl der Mikrofone hat sich eigentlich über die Jahre so ergeben und stellt für mich ein funktionierendes Setup dar, von dem ich weiß, dass es erst mal out-of-the-box funktioniert. Meistens stelle ich dann noch das eine oder andere Mikrofon dazu, um zu sehen, was dabei rauskommt und ob es die Aufnahme bereichert. Welches Mikrofon ich für welches Instrument bevorzuge, war eigentlich ein »Trial & Error«-Spiel über die letzten Jahre, welches sicher noch lange kein Ende gefunden hat.
Ansonsten muss man aber sagen, dass die Wahl der Spotmikrofone gerade bei einer Tutti-Aufnahme fast keine Rolle spielt, da teilweise sehr dicht am Instrument mikrofoniert werden muss. Sonst hätten wir alles auf dem Mikro, nur nicht das relevante Instrument.
Die Klangentfaltung klassischer Instrumente findet in der Regel erst bei einer Distanz von 1 bis 2 Metern statt, deshalb sind die Hauptmikrofone auch so wichtig. Die Spots dienen eher für die Texturgestaltung, weniger als Hilfsmittel, um ein Instrument lauter zu machen. Dennoch bieten sie eine gewisse Klangästhetik, die gewollt sein kann, z. B. bei den Altflöten-Soli im Happy-Family-Score.
Gibt es Equipment, das sich für Happy Family besonders bewährt hat?
Bei Projekten dieser Art kann man eigentlich nicht sagen, dass man von einem einzelnen Stück Hard- oder Software profitiert hat. Es ist das Zusammenspiel aus einem wahnsinnig guten Saal, tollen Musikern, guten Mikrofonen, Vorverstärkern und Wandlern.
Ansonsten braucht man für genau diese Projekte eine DAW, auf die man sich einfach verlassen kann, und das ist für mich Pro Tools HD (HDX2), welche mir die Möglichkeit gibt, maximal schnell und flexibel mit über hundert Tracks zu arbeiten, sowohl während der Aufnahme als auch beim Mix. Denn jede verschwendete Minute kostet richtig viel Geld.
Während des Mixes kamen vier Bricastis zum Einsatz, welche sowohl dezent als auch vollkommen übertrieben benutzt wurden. Doch egal wie man diese Geräte einsetzt, kreieren sie immer einen wundervollen Hall.
Wie sah deine Pro-Tools-Session aus? Mit wie vielen Spuren muss man bei einem solchen Projekt rechnen?
Die finale Misch-Session von Happy Family hatte insgesamt durch Splits, Overdubs, zusätzliche Soloinstrumente und Percussions etc. ca. 560 Audiotracks plus diverse Busse, Master und VCAs. Wenn wir alle Fader einzeln zählen würden, kämen wir auf etwa 650 Spuren.
Benutzt du Effekte in der DAW?
Plug-ins auf Einzelsignalen kommen eigentlich nur da zum Einsatz, wo es auch tatsächlich Probleme gibt oder bei gewollten Verfremdungen − nie pauschal erst mal das Signal verdrehen −, ansonsten natürlich auf Subbussen, Parallelbussen oder Effektbussen. Diese haben dann entweder Hardware I/Os, z. B. zu den Bricastis, oder meine Lieblings-Hall-Plug-ins von Exponential Audio oder auch Effekte von FabFilter. Selten sind meine Sessions voll mit Plug-ins. Der hauptsächliche Sound muss während der Aufnahme entstehen.
Wie würdest du die Schnittstelle zwischen Hendrik als Komponist und dir als Engineer beschreiben?
Projekte mit Hendrik sind immer sehr außergewöhnliche Projekte. Wir kennen uns seit Jahren, und auch hier war ich von der ersten Minute an involviert. Sobald ein Cue fertig war, bekam ich ihn, um ihn ans Bild anzulegen, und kannte dadurch den Score schon vor der Aufnahme in- und auswendig. Es gibt auch Projekte mit anderen Komponisten, da hat man bis zum ersten Take noch nie was von der Musik gehört.
Das Schöne bei uns ist einfach, dass die Kompetenzen ganz klar verteilt sind und von niemandem angezweifelt werden. Dadurch ist das Arbeiten super entspannt und lässt keine Fragen offen.
Mickey-Mousing
Werden Elemente der gezeigten Bilder lautmalerisch in der Filmmusik widergegeben, so spricht man von Mickey-Mousing — ganz in Anlehnung an die guten alten Schwarzweiß-Cartoons.
Die konventionellere und weniger überspitze Technik ist das Underscoring, das neben der Leitmotiv- und Mood-Technik eine der wesentlichen Techniken bei der Filmmusikkomposition ist. Hier werden Vorkommnisse, Bewegungen und dargestellte Gefühle synchron paraphrasiert.
Temptrack
In den meisten Fällen wird die Filmmusik am Ende über den fertigen Film »drüberkomponiert«. Um diese akustische Lücke während der Produktion aufzufüllen, nutzen Regisseure oft Platzhalter mit Musik, die dem gewünschten Stil nahekommt — sogenannte Temptracks.