Dass Köln in puncto spannender Newcomer in jüngster Zeit einiges aufzubieten hat, ist kein Geheimnis mehr. Was Neufundland jedoch hervorstechen lässt, ist, neben ihrem ausgefeilten Songwriting, insbesondere ihr Umgang mit Sprache und textlichen Aussagen. Sie sind ein gutes Beispiel dafür, dass Pop nicht anbiedernd oder perfekt sein muss, sondern klare Kante vertragen kann. Das Debüt-Album des Quintetts Wir werden niemals fertig sein ist das Resultat eines anderthalbjährigen künstlerischen Schaffensprozesses, welches die Band gemeinsam mit Produzent Tim Tautorat (u.a. AnnenMayKantereit, Faber, Turbostaat) in den Berliner Red Bull Studios realisiert hat.
Die erste Veröffentlichung von Neufundland ist eine selbstbetitelte EP, welche die Band im Frühjahr 2015 in Eigenregie produziert und im darauffolgenden Herbst selbst herausgebracht hat. Schon zum Zeitpunkt der Master-Abgabe der fünf EP-Songs im Mai des Jahres beginnt die Songwriting-Phase für das Debüt-Album — ab da liegt der Fokus klar auf den neuen Songs. Infolgedessen trifft sich Sänger und Gitarrist Fabian Langer im Sommer mit dem befreundeten Produzent Tim Tautorat, um sich über die gerade fertiggestellte EP und das bevorstehende Album auszutauschen; beide haben sich zwischenzeitlich bei der gemeinsamen Arbeit an einem anderen Projekt kennen und schätzen gelernt, und so wird Tautorat, obwohl eine Zusammenarbeit noch gar nicht beschlossen ist, zu einem wichtigen Feedback-Geber und Vertrauten.
Innerhalb kürzester Zeit wird klar, dass es ähnliche Ansichten und Ideen für das bevorstehende Album gibt, wie Tautorat erzählt: »Die EP-Aufnahmen gingen recht schnell vonstatten, weil die Band spielerisch so gut ist — gleichzeitig ist klanglich alles sehr schön und hell geworden. Es hat sich aber herauskristallisiert, dass es gar nicht das ist, was sie sich vorstellten und sogar das Gefühl hatten ihr Können und Perfektionismus in Bezug auf Aussage und dessen, was sie sich unter ihrer Musik vorstellen, könne verfälscht werden. Und dafür sollte ein neuer Sound gefunden werden.« Es soll kantiger, unbequemer und weniger perfekt sein, denn eine klare Erkenntnis aus dem vorherigen Studio-Prozess ist für Langer, »dass Sachen scheiße klingen müssen, damit die anderen gut klingen!«
Die Musik soll, da wo es notwendig ist, auf den Inhalt reagieren, damit das Unperfekte innerhalb der Songs konsistenter und authentischer wird. Dementsprechend geht es der Band darum, Aufmerksamkeit durch einen Moment zu kreieren, bei dem die Leute hinhören, weil sie irritiert sind und die Musik bewusst nicht perfekt ist — wohl eher die Ausnahme innerhalb deutscher Pop-Musik.
Der Weg zum Album — Songwriting
War man im Falle der EP zu sehr in den eigenen Produktionsideen und Details verloren, ist nun das Credo, die Band so klingen zu lassen, wie sie live und im Proberaum klingt. Auf Basis dieser Erkenntnis wird kontinuierlich und zielstrebig an den neuen Demos gearbeitet.
Das Songwriting ist ein kollaborativer Prozess, an dem die gesamte Band beteiligt ist und sich beim Austausch gemeinsamer Ideen immer weiter auf den Song zu bewegt. »Natürlich entwickelt man auch Ideen im Stillen, aber vom Prinzip waren wir schon in der Regel 2-5 Tage im Proberaum und haben an Demos gearbeitet«, so Langer, »Der entscheidende Punkt ist hier einfach: Wir haben zwei Jahre konstant daran geschrieben, es gab nie eine Woche in dieser Zeit, wo nicht an dieser Platte gearbeitet wurde.« Über die Writing-Phase hinweg folgt weiterhin ein reger Austausch mit Tautorat zu den neuen Songskizzen, so dass sich die Produzenten-Frage irgendwann auf natürliche Art und Weise geklärt hat, und gemeinsame Test-Sessions verabredet werden.
Bis zum Herbst 2016 hat die Band etwa 35 Ideen-Skizzen ausgearbeitet, aus denen 20 fertige Songs für die Studio-Session werden. Langer glaubt nicht an den vielbeschworenen Kult des deutschen Genies, sondern an eine konsequente Arbeitsmoral für das gemeinsame Projekt mit seinen besten Freunden: »Es waren schon 2 Jahre krasser Vollgas-Modus ohne Limits. Wir haben uns gesagt, wir machen das jetzt, bis es nicht mehr geht«, erzählt Langer. Letztendlich wird eine Auswahl von 14 Songs für die Recordings getroffen; die Entscheidung richtet sich nach dem Gesamtbild des Albums, es soll eine stringente Platte sein, die ein einheitliches, rundes Bild zeichnet. Dabei legt die Band immer einen klaren Fokus auf den Inhalt: »Es gab ein paar Nummern, die mehr oder weniger gesetzt waren, weil sie inhaltlich so starke Aussagen hatten. Und es sind eher Nummern rausgeflogen, die zu poppig waren«, erinnert sich Langer, »Wir haben uns dann eher für die Songs entschieden, bei denen eine klare musikalische oder inhaltliche Aussage getroffen wird, als dass es einfach nur ein guter Song ist. Im Zweifelsfall war uns immer am wichtigsten, dass unser Debüt sehr präzise abbildet, wer wir sind und was wir machen.«
Die Album-Session — Live Recordings in Berlin
Im Schaffen einer Klanglichkeit, die einerseits aktuell und modern, aber andererseits auch zeitlos klingt, liegt der Anspruch für Tautorat bei der Produktion eines Sounds wie von Neufundland. Wie auch der Band ist ihm wichtig, »dass das Album die Charaktere der Band gut vermittelt und dass es den inhaltlichen Anspruch der Texte gut repräsentiert. Dem Ganzen ein neues Klangbild zu geben, das war die Herausforderung und das Spannende an der Sache.« War die EP zuvor noch eine klassische Overdub-Produktion, bei der viel Wert auf Perfektion und Detail gelegt wurde, so setzt Tautorat sein Augenmerk nun auf das große Ganze, um einen sehr klaren ästhetischen Kontext zu schaffen; dieser lässt sich seiner Erfahrung nach insbesondere während der Performance beim Live Recording erzeugen: »Wenn man die Gitarren einspielt, weiß man vielleicht noch gar nicht so genau, was Synthesizer-mäßig später passieren soll. Oder wenn die Drums aufgenommen werden, weiß man nicht direkt, wo später Vocals sind oder wo nicht. Und deshalb war die Idee, eine Live-Session zu machen, wo alle zusammen spielen und die Musiker aufeinander reagieren.«
Als Ort der Wahl für die Recordings fällt die Entscheidung final auf die Berliner Red Bull Studios, weil es die passenden Räumlichkeiten sowie eine entsprechende Infrastruktur bereit hält — unter anderem eine große SSL 4048G/G+, sehr gutes Monitoring (u.a. ATC SCM200 und Amphion One18) oder Outboard Gear auf internationalem Standard (ein breites Sortiment an Pre-Amps, wie u.a. NEVE 1084, API 512C + 550A, Urei 1176).
Pro Tag werden hier von der Band in der Regel zwei Songs eingespielt; zu Beginn jeder Session wird zunächst über das jeweilige Arrangement gesprochen, da man bei den Songs bewusst noch etwas Luft und Flexibilität für Veränderungen und spontane kreative Impulse gelassen hat. Während die Band noch am Material arbeitet und sich in den jeweiligen Song findet, bereitet Tautorat bereits Hardware-seitig den Sound vor und versucht, diesen vorab so gut wie möglich zu definieren. Das führt dazu, dass diese frühen und schnellen Entscheidungen oftmals nahezu schon dem hörbaren Mix des Albums entsprechen — Tautorat verlässt sich dabei auf seinen intuitiven Drive, welcher innerhalb der Recordings entsteht: »Man entscheidet in einer Produktionssituation schneller als in einer Mix-Situation, und greift dann auch schneller ein.
Im Mix sitzt man an seiner DAW und kann technisch penibel genau den Rahmen definieren. In der Produktion drehst du einen Knopf auf und denkst dir, ›Joah, ganz geil. Vielleicht noch ein bisschen mehr!‹, drehst noch ein Viertel weiter und nimmst es halt einfach so auf.« Auch aufgrund der vielen Gespräche, welche Produzent und Band im Vorfeld geführt haben, weiß Tautorat, was der einzelne Song braucht; sich immer wieder individuell von Song zu Song neu einzulassen und Entscheidungen gegen ein konventionelles Pop-Klangbild zu treffen, ist die Maxime.
Wenn das finale Arrangement des Songs anschließend aufnahmebereit ist, steht in der Regie bereits der Song, wie er klanglich gestaltet sein soll. Um dies innerhalb des straffen Zeitplans bewerkstelligt zu bekommen, fungiert David Trapp, Live-FOH-Techniker der Band, als Co-Engineer und ist ein wichtiger Partner für Tautorat beim Live-Tracking. So werden innerhalb von nur 12 Tagen die musikalischen Basic-Tracks des Albums eingespielt, woraufhin noch ein paar Tage Overdubs für elektronische Parts und Percussion folgen und anschließend die Vocals von Fabian Langer und Fabian Mohn innerhalb einer Woche in Tautorats Hansastudio5 aufgenommen werden.
Das Sounddesign — Tautorats Arbeit mit Effekten
Ein wesentliches Merkmal des Sounds von Wir werden niemals fertig sein basiert auf Tautorats Arbeit mit Effekten (u.a Hall-Geräte, Modulationseffekte, selbst gebaute Delay-Lines), welche er direkt separat mit aufnimmt.
Er setzt bereits während der Session auf die Verfremdung von Signalen, um mit Blick auf den Mix — der letztendlich auch durch ihn betreut wurde — darauf vertrauen zu können, dass seine schnellen Bauchentscheidungen auch die richtigen sind. »Das war wichtig, um dem Projekt Neufundland etwas Momentanes zu geben. Es ging darum, der Spontanität des Moments freien Lauf zu lassen und darauf zu vertrauen, dass eben genau diese Entscheidung gut ist. Das ist es, was es grundlegend von der EP unterscheidet«, so Tautorat. Neben Verzerrung als elementarem Stilmittel ist das bewusste Weglassen von Kanälen ein weiteres prägendes Element: »Es gab beispielsweise 16-18 Kanäle Drum Mikrofone, aber die sind nie alle auf dem Song drauf. Es gibt Songs, da sind nur zwei Kanäle auf oder auch mal nur einer. Und dann ist dieser Kanal so stark verzerrt, dass alles da hinein schwingt.«
Analog zu der Überlegung in der Vorproduktion, was man an Noten im Arrangement weglassen kann, ist hier die Frage, welche Kanäle ausbleiben können. Tautorat geht undogmatisch und unkonventionell heran, und verliert dabei nie den Gesamtkontext der Platte aus dem Blick: »Wenn ich die Snare noch etwas mehr verzerre, brauche ich dann eigentlich noch ein Hi-Hat-Mikrofon? Oder wenn ich sie verzerre und heller mache, brauche ich dann noch ein Bottom-Mic?« Die freie Herangehensweise an Mic-Kombinationen und die Wahl verschiedenster Verzerrungs-Optionen (u.a. Überfahren von Mic-Pres/Kompressoren) definieren also die besondere Klanglichkeit des Albums.
Individuell wird eine Ästhetik geschaffen, welche den Ausdruck des jeweiligen Songs schärft und dabei auf klassische Konventionen verzichtet: »Manchmal soll der Song etwas düsteres, aggressives oder verwirrtes vermitteln. Das heißt, unsere Maxime war auch: ein Set muss nicht immer nach Drumset klingen, eine Hi-Hat muss nicht immer wie die schönste oder perfekteste Hi-Hat klingen. Oder auch: Was sind innerhalb des Schlagzeugs die wesentlichen Elemente — und welche können weggelassen werden?« Insbesondere die Rhythmusgruppe wird zum Fundament des Klangbilds, wie Fabian Langer herausstellt: »Jeder Song ist getragen von einem sehr speziellen Drum Sound, welcher ein sehr mattes, rumpeliges Gesamtbild zeigt. Zusammen ist dieser mit einem Vintage-Bass, der ebenfalls eine tragende Rolle hat, ein wesentliches Element. Das hat die gesamte Platte geprägt.«
Was die Equipment-Auswahl angeht, ist Tautorats Herangehensweise ebenfalls sehr pragmatisch — im Gegensatz zu vielen anderen Studio-Produktionen gibt es kein langes Herumprobieren oder Experimentieren, um die perfekte Equipment-Lösung zu finden, sondern hier werden schnelle und klare Entscheidungen getroffen, wie Fabian Mohn betont: »Tim hat ganz bewusst wenig wert darauf gelegt, den ›perfekten‹ Gitarrensound zu finden. Ich habe meine Gitarren über meinen Amp, den ich im Proberaum spiele, eingespielt; wir haben zwei Gitarren-Pedale ausprobiert, dann festgestellt, dass die eigentlich nicht passen, aber haben es trotzdem einfach genommen. Es war einfach überhaupt nicht das Procedere, das man vielleicht von anderen Bands kennt, also dass erstmal zwei Tage Studio-Zeit dafür drauf gehen, um den perfekten Gitarrensound zu finden. Es ging einfach darum, ob der Song funktioniert und ob er etwas mit uns macht oder nicht.«
Die Signalkette ist eigentlich immer die Selbe: Preamp, EQ und Kompressor von der SSL-Konsole, anschließend ins Pro Tools HDX. Lediglich die Art der Preamps ändert sich je nach aufgenommenen Instrument: API 512 für die Drums, Neve 1073 für die Gitarren, Lorenz Ü300 für den Bass. Für alle übrigen Signale benutzt Tauterat die Preamps der SSL.
Ein anderes charakteristisches Element, mit dem der Produzent arbeitet, sind Hallräume. Über das gesamte Album hinweg verwendet Tautorat insgesamt vier Arten von Hallräumen, die von Song zu Song unterschiedlich mit Signalen beschickt wurden. 1. Ein Lexicon 480 als Plate, dessen Return hart über SSL-Kanäle gegattet wurde; 2. ein Bricasti M7 mit einem großen Wood Room, um die kleine Räumlichkeit im Studio realistisch vergrößern zu können; 3. eine Ursa Major Space Station mit einer sehr dichten, sehr kurzen Reflexionsfolge für reine Early Reflections und Phasing-Effekte und 4. ein Pioneer SR202W Spring für Effekt-artige, klappernde Hallfahnen.
»Die Hallräume auf der Platte sind super spannend. Es gibt viele von Hand gegatete Verbs, die eigentlich immer aus den selben vier Hallgeräten kommen, weil sie immer leicht anders verwendet wurden. Mal gegatet, mal offen, mal hell und mal sehr matt — die aber eine sehr konsequente Verwendung über die Platte hinweg liefern«, erzählt der Produzent.
Des Weiteren wird oft ein Eventide H3000 für Harmonizer-Effekte auf perkussiven Signalen von Tautorat verwendet.
Das Ergebnis — Wir werden niemals fertig sein
Dadurch, dass Tautorat den Sound des Albums während der Produktion weitestgehend schon definiert und bereits innerhalb der Session spezielles Klangbild geschaffen hatte, geht es im Mix in erster Linie darum, diesen Ansatz konsequent zu Ende zu bringen. Nach einem Tag in Berlin, wo leichte Revisionen seitens der Band durchgesprochen wurden, war das Album fertig gemischt; um den Feinschliff im Mastering kümmerte sich Sascha „Busy“ Bühren, den Tautorat der Band empfohlen hatte und dessen Test-Master die Band überzeugte: »Ihm war klar, dass jetzt nicht jeder einzelne Frequenz-Bereich aufgeräumt werden muss, als wäre das eine Pop-Platte, und er müsse das nun im Mastering lösen«, so Langer. Nach zwei Korrekturen hat der Master das optimale Level erreicht, und so gestaltet sich der finale Prozess im Verhältnis zu der intensiven Vorbereitung im Vorfeld der Recordings als sehr überschaubar.
Die einzelnen Elemente — Songwriting, Recording, Mix und Master — scheinen sich nun ideal ineinandergefügt zu haben, wie Langer zufrieden feststellte. »Ich hoffe, dass es eine sehr ernst gemeinte, schöne Pop-Platte geworden ist. Ernst gemeint in dem Sinne, dass ich da etwas mitzuteilen habe. Das ist mir wichtig. Gleichzeitig klingt sie aber auch frisch, frei und unbefangen. Es ist Pop-Musik, die sich nicht anbiedert, wie man das sonst oft von anderen Künstlern gewohnt ist.«
Die Bedeutung der Texte sticht auch nach Tautorat hervor, welcher sich ebenfalls mit dem Ergebnis ihrer Produktion begeistert zeigt: »Ich finde, dass auf dieser Platte große Aussagen getroffen werden; aber nicht einfach nur um Parolen, sondern über wichtige Themen. Inhaltlich geht es nicht dauernd um denselben Kram, sondern viele Songs drehen sich um relevante Themen. Man merkt, dass ihnen das super wichtig ist. Deswegen auch der konzeptionelle Gedanke, die Aussage und Emotion des Songs mit der Musik zu verwirklichen oder mit umgesetzt werden müssen. Es ist eine sehr stilvolle Platte geworden, nicht zuletzt da jede klangliche Entscheidung intensiv hinterfragt und mit jedem Song abgeglichen wurde. Ich bin sehr happy damit.«