Speerspitze der Hamburger Schule

Studioreport: Tocotronic – Die Unendlichkeit

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Tocotronic(Bild: Michael Petersohn)

Anfang des Jahres hat sich die Indierock-Institution und Speerspitze der Hamburger Schule zurückgemeldet. Tatsächlich umgibt die ewigen Kritikerlieblinge Tocotronic eine derart zeitlose Aura, dass man per se das Gefühl haben könnte, als wären sie schon immer da gewesen und würden für immer bleiben. Die Unendlichkeit heißt das aktuell zwölfte Studioalbum, mit dem die Band ihre langjährige Zusammenarbeit mit Produzent Moses Schneider fortgesetzt hat. Dieses jedoch markiert eine signifikante Zäsur innerhalb der Bandgeschichte.

Nach dem Album ist vor dem Album: Einen richtigen, offiziellen »Startschuss« wie bei vielen anderen Produktionen gibt es im Fall von Tocotronic nicht. Der Prozess ist fließend, die Band begibt sich in keine klassische Songwriting-Phase. Das liegt an der Angewohnheit von Sänger Dirk von Lowtzow, direkt nach der Tour zum vorherigen Album mit der Arbeit am nächsten zu beginnen – als Vermeidungsstrategie gegen das Tourloch. Darin liegt Routine, und es verschafft Sicherheit, woraus ebenfalls auch eine gewisse zeitliche Kontinuität erwächst: »Wir sitzen an jedem Album immer etwa anderthalb Jahre. Von der Entstehung bis zum Mischen«, so Moses Schneider.

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Im Vorfeld zu den Aufnahmen und parallel zum Songwriting wird vieles zwischen Schneider und von Lowtzow diskutiert – etwas, das Schneider auch gerne »philosophieren« nennt. Vor allem stellen sie sich Fragen: Was wollen wir dieses Mal ausprobieren? Was sollte man auf Basis von früheren Erfahrungen anders machen? Was alles darf erlaubt sein? Streicher, ja oder nein?

Demos und erste Song-Skizzen

Ebenso wie bei der Produktion zum Vorgänger-Album Tocotronic (auch bekannt als »Rotes Album«) geht der Weg weg vom stationären Arrangieren im Proberaum. Von Lowtzow findet für Die Unendlichkeit zudem die Möglichkeit der spontanen Handy-Aufnahme passend, um seine ersten Ideen festzuhalten. Sobald von Lowtzow die ersten Ideen aufgenommen hat, ist Schneider aktiv in den Prozess involviert.

Er gibt Feedback und hilft weiterhin dabei, von Lowtzows Ideen in ihrer Essenz hörbar zu machen. Wie von McPhail geschildert, geschieht dies dann wie zuvor ganz klassisch auf Basis einer uralten Martin-Akustikgitarre und Gesang. Parallel dazu bastelt Schneider, falls erforderlich, auch an Demo-Beats, um die Skizzen greifbarer zu gestalten und ein erstes Gefühl für das Tempo des Songs zu bekommen, bevor sie dann an die restliche Band verschickt werden.

Moses Schneider bei der Arbeit

Arrangement-Vielfalt statt Bandsound

Die erste relevante Entscheidung fällt wie bereits beim »Roten Album« erneut zugunsten einer Klicktrack-Produktion aus. Dies erscheint zunächst eigentlich eher untypisch für Schnei – der, da er insbesondere als ausgemachter Experte und Verfechter von Live-Recording ohne Klick gilt. Im Falle der Entwicklung von Tocotronic überzeugen ihn allerdings deren Argumente für die Veränderung: »Irgendwann beim vorletzten Album meinten sie: ›Wir haben das jetzt so oft gemacht, das macht doch einfach keinen Sinn mehr. Lass mal jetzt mit Klicktrack arbeiten, dann können wir uns auch um andere Formen und Arrangements kümmern.‹ «

Die zweite Veränderung ist eine konzeptionelle und damit maßgebliche: Zum ersten Mal innerhalb der Bandgeschichte ist ein Tocotronic-Album autobiografisch. Von der Kindheit (Tapfer und grausam) über die Adoleszenz und frühe Erwachsenenzeit bis in Gegenwart und Zukunft (hier: die Utopie Mein Morgen) wird das Leben des Sängers Dirk von Lowtzow in zwölf Kapiteln thematisiert.

Konzeptionelle Elemente in der Produktion

Dies stößt einerseits inhaltlich eine neue Tür und Perspektive auf, gleichzeitig bestimmt es auch die Herangehensweise bei den Recordings: »Das Autobiografische der Texte hat die Arbeitsweise verändert. So kam Moses beispielsweise auf die Idee, die Songs entsprechend chronologisch aufzunehmen. Dadurch, dass wir die Song-Reihenfolge wie auch die Overdubs entsprechend so aufgenommen haben, ist das Ergebnis schon echt interessant geworden. Das wurde also nicht im Sequencing oder Mastering entschieden, sondern vorher«, so McPhail.

Und Schneider ergänzt: »Ich habe einen roten Faden, eine Perspektive mehr. Dadurch kommen auch produktionsästhetisch einige ganz neue Aspekte mit rein, die wir integrieren wollten.« Diese chronologische Betrachtung der Songs macht für die Aufnahmen im Folgenden weiterhin viel Sinn, weil es die Möglichkeit eröffnet, produktionsästhetisch auf bestimmte signifikante Stellen zu reagieren. »Die ganzen schnelleren Punkrock-Songs sind alle mehr oder weniger auf der A-Seite gelandet. Also bevor er nach Hamburg zieht. Und ab Hamburg beginnt die ganz große Pop-Welt. Da wird’s dann auch mit Streichern laut«, lacht Schneider.

Etappen-Aufnahmen

Die Aufnahmen finden entsprechend in verschiedenen Etappen statt. Unter anderem Bass, Schlagzeug und Gesang im Transporterraum bei Schneider in Berlin, die E-Gitarren werden in McPhails eigenem Studio in Hamburg aufgenommen. Die flexiblen Möglichkeiten von Home-Recording in Zeiten digitaler Musikproduktion werden zugunsten von kollektivem Output genutzt. Auch Schneider weiß diese Entwicklung zu schätzen: »Jeder hat einen Rechner zu Hause und kann damit aufnehmen. Jeder ist ständig am Machen, und irgendwann wird alles zusammengeworfen. Das finde ich super.«

Analog zur potenziellen Arrangement-Vielfalt besteht die Möglichkeit eines »Outsourcings« von instrumentalen Parts. Im Gegenzug zum »Roten Album« wird seitens der Band nun entsprechend einiges, beispielsweise Streicher-Arrangements und alle Tasteninstrumente, abgegeben. Gitarrist Rick McPhail, der zuvor im Studio auch Keyboards gespielt hatte, sieht in der Kollaboration mit Gästen die Möglichkeit von bereicherndem Input und entsprechend neuen Klangfarben: »Wenn man was abgibt, bekommt man gleichzeitig was dazu, auf das man vielleicht selbst nicht kommen würde. Paul Gallister (Österreichischer Komponist und Produzent; Anm.d.Aut.) hat dem Ganzen durch seine Arbeit an den Arrangements für die Streicher seine eigene Note verliehen. Oder auch Friedrich [Paravicini], der viele alte Vintage-Synthesizer verwendet hat, unter anderem ein Ondes Martenot aus den 20er-Jahren.« Der französische Jazz-Musiker Paravicini nimmt die Piano-Parts in seinem eigenen Studio auf. Dies also die dritte Location, an der Aufnahmen für das Album stattfinden, von denen keine ein klassisches Tonstudio ist.

Zank
Drummer Arne Zank am Transporterraum-Mixed-Setup mit Wurst-Mikrofonierung

E-Gitarren in Rick McPhails Homestudio

In seinem Homestudio verfügt McPhail über alles, was er für die Gitarren-Aufnahmen benötigt: ein Toft Audio ATB 32-Digitalpult samt entsprechendem Motu-24-I/O-Interface. An Effekten nutzt er einerseits allgemein ein Studer-TapeRecorder-Plug-in von Universal Audio sowie im Besonderen bei Die Unendlichkeit ein Korg Kaoss Pad Quad, mit dem er während der Produktion viel experimentiert, um neue Sounds zu kreieren. Für die Amp-Mikrofonierung nimmt er in der Regel ein Sennheiser e609. Zu seiner Cyan Custom »The Phail«-Gitarre spielt einen Princeton Reverb Killer von Klone Valveamps sowie einen 70er Fender Silverface Deluxe Reverb.

Von Lowtzow bedient sich eines Randall RM20-Combos mit einem Salvation Mods TwinFace-PreAmp (ohne Mic, XLR-Out ins Pult). An Gitarren spielt er eine Deimel Custom sowie ein Firestar-Modell. Ansonsten verbleibt von Lowtzow in puncto Gear puristisch.

McPhail hingegen lebt hier insbesondere seine NerdVorlieben in vollen Zügen aus, wie die folgende Auswahl seiner Pedale zeigt: Lemming Fuzz und Deluxe Motor Fuzz von Orion FX, ein White Atom von Magnetic Effects, Kingmaker Fuzz und Reflex Expression Controller von Source Audio, eine Line6 M9 Stompbox sowie einen G LAB GSC-4 FX Switcher/Looper.

Da Bassist Jan Müller ebenfalls in Berlin wohnt, finden die Bass-Recordings im Transporterraum statt. Hierbei verwendet Schneider lediglich DI-Signale via Voxbox. Wenn es verzerrter und rauer werden soll, geschieht dies auf Sense-Amp-Basis (wie beispielsweise bei Songs wie Hey Du). Für die klassischen tiefen Töne bleibt er bei der DI-Box. Müller spielt auf den Aufnahmen einen Sandberg Jazz Bass TS-Edition oder einen Gibson SG Short-Scale-Bass mit geschliffenen Saiten.

Recording im Transporterraum

Für das Einspielen von Demo-Schlagzeugspuren kommt Drummer Arne Zank dann zu Schneider nach Berlin in den Transporterraum. Dem Produzenten geht es dabei zunächst um organische Basic-Tracks zur Orientierung für die Band, da er nicht wie zuvor zu einer Drummachine arbeiten will: »Das hatten wir nämlich zuvor beim letzten Album gemacht. Als wir dann die Drums anschließend aufgenommen haben, merkten wir, dass sich die Musik gefühlsmäßig so an dem Drumcomputer gewöhnt hat, dass wir beim Drum-Recording versucht haben, einen kalten Maschinensound hinzukriegen. Bei dem Album ging’s um Liebe, warum nicht also so eine krasse Maschine dagegen setzen? Aber das wollten wir bei diesem Konzeptalbum nicht.«

Als Aufnahme-Equipment für die Demo-Drums verwenden sie ein Mixed-Setup aus Trommeln, die gerade im Transporterraum herumstehen: Eine uralte 1980er Sonor Bassdrum, ein Pearl-Standtom sowie eine gerade auffindbare mittelalte Chrome-Metal-Snaredrum. Da es kein Snaredrum-Stativ gibt, wird dazu einfach kurzerhand ein Mikro-Ständer umfunktioniert. »Es sollte ja nur Demo-Schlagzeug sein«, so Schneider, »Und dabei gibt man sich bekanntlich nicht so viel Mühe. Ich habe daher tatsächlich auch nur ein Mikro als Hauptmikrofon, nämlich die ›Wurst‹, benutzt. Ich bin die ganze Zeit davon ausgegangen, dass wir, wenn alles andere fertig aufgenommen ist, nochmal ins Studio gehen und uns an einen geilen Drumsound speziell für die jeweilige Nummer machen.«

Tatsächlich findet die Band Schneiders »1-Mikrofon-Sound« via Neumann M49 so gut, dass sie genau diesen Sound auf dem Album haben möchte. Er selbst hat dabei zunächst seine Zweifel, lässt sich aber letztendlich von der Band überzeugen. Einen Denkzettel gibt es jedoch dann unverhofft später im Mix: »Michael [Ilbert] hat sich beschwert und meinte, das sollen wir nie wieder machen«, lacht Schneider. »Ursprünglich war seine Idee, mit Triggern zu arbeiten, aber da wir alle Signale auf einem Kanal hatten, war das viel zu aufwendig. Letztendlich hat er diese Drumspur parallel gelegt und sich bei der ersten Kopie nur darum gekümmert, dass die Bassdrum gut klingt und bei der zweiten, dass die Snare gut klingt. Letztendlich waren es dann vier Spuren für Drums. Parallel-Kompression und Parallel-Bearbeitung. Und jetzt, finde ich, klingt es super.«

Schneiders »Wurst-Formel«

Zusätzlich zur »Wurst« arbeitet Schneider gerne im jeweiligen Fall auch mit einem Effekt-Mic. Beispielsweise so, dass ein Phaser auf die Hi-Hat gelegt wird oder ein spezieller Floortom-Part dadurch in einer tieferen Oktave verstärkt wird. Als »Wurst + (F)X« könnte man die Formel des Produzenten zusammenfassen. »Es geht also immer darum, dass man zusätzlich zu dem Wurst-Sound noch was Krasses dazu macht. Also dann hat man ein Effekt-Mic, mit dem man irgendwelchen Blödsinn rückwärts laufen lässt oder eben eine Oktave tiefer. Oder beides.«

Doch nicht nur in puncto Drums spielt das M49 eine prominente Rolle: Es ist Schneiders Allzweckwaffe, die er ebenfalls auch für die Vocal-Recordings sowie einige weitere Instrumente verwendet. Weil insgesamt vieles nur mit einem Mikrofon aufgenommen wird, erhält Schneider hauptsächlich Mono-Signale. Ausnahmen sind McPhails »Out of Fade«- Gitarrensound sowie Paravicinis Hammond als einziger Stereo-Output. Die Mono-Quellen werden von Schneider im Stereo-Bild verteilt. Da mit keinem Raum-Mic gearbeitet wird, gibt es darüber hinaus keine Räumlichkeit oder Stereo.

Die allgemeine Kette, die Schneider während der gesamten Produktion nutzt, ist das Neumann M49 in Kombination mit einer Manley Voxbox als PreAmp, einem Urei 1176 als Kompressor/Limiter sowie einem Tube Tech PE1C als Equalizer.

Mit dem Ergebnis zeigt sich Produzent Schneider zufrieden. Er hat mit der Band ein neues Kapitel aufgeschlagen, weg vom lebendigen, räumlichen Bandsound hin zur ausgefeilten Arrangement-Vielfalt via Klicktrack: »Es ist von allen das bunteste Album, das wir je gemacht haben. Vielleicht wird das nächste Album noch bunter, vielleicht wird es aber auch ein politisches Album.« Sofern sich an von Lowtzows Routine gegen das Tourloch nichts geändert hat, sollten diesbezüglich erste Ideen gerade schon wieder im Entstehungsbegriff sein. Wir werden sehen.

Die Unendlichkeit ist im Frühjahr 2018 via Vertigo/Universal erschienen.

www.tocotronic.de

www.transporterraum.de

 

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