Lineare Übertragung mit möglichst hoher Auflösung und sagenhafter Klarheit — genau das bewerben heute viele Hersteller von Soundkarten, Wandlern oder anderer Studiotechnik. Wenn wir uns heute die technischen Daten eines Audio-Interfaces anschauen, dann steht selbst bei den günstigeren Modellen etwas von 24 Bit und 96 kHz. Wir wollen schließlich ein bestmögliches Abbild der Realität, oder?
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Zu Beginn der Studiotechnik, wie wir sie heute kennen, musste man zwangsweise ein echtes Abbild der Realität einfangen. Ein einzelnes Mikro stand da im Aufnahmeraum, und der Rest der Band musste sich so positionieren, damit das Ganze insgesamt einen ausgewogenen Mono-Mix ergab. Dabei war die Studiotechnik damals keineswegs so linear und problemlos wie heute.
Die Band musste für dieses exakte Abbild vielleicht die Instrumente leiser stellen, und der Drummer durfte auch nicht mit voller Kraft loslegen. Zu dicht am Mikrofon nervte ein deutlicher Nahbesprechungseffekt, und wenn man dem Sänger ein bisschen weniger Bass geben wollte, ging das nicht per EQ, sondern er musste halt einen Schritt vom Mikrofon zurücktreten. Mit dem EQ hätte man ja auch allen anderen Musikern den Bassanteil geklaut!
Natürlich gab es auch Einzelmikrofone, aber insgesamt blieb auch das klangliche Abstimmen der Einzelmikros stark vom Raum, den entsprechend positionierten Dämmmaterialien sowie der Position und Ausrichtung von Mikrofonen und Musikern abhängig. Mit der damaligen Technik kämpfte man dann gegen geringe Dynamikbereiche und glich den Gesamtfrequenzgang einigermaßen aus.
Das mache ich mal nach …
Bändchenmikrofone haben in den letzten Jahren eine wahre Renaissance erlebt und sind inzwischen in allen Preislagen für jeden erschwinglich. Eigentlich wäre es kein Problem, genau solch eine Vintage-Aufnahme heute mit der ganzen Technik zu simulieren. Die ganzen Vintage-Legenden haben wir als Plug-in mehr oder weniger im Rechner, und mit einem einfachen Audio-Interface kombiniert schlagen wir jedes Studio aus den 60er-Jahren! Oder?
Ich habe das neulich in einem einfachen Setup probiert: Klavier, Cello und Cajon gleichzeitig über ein einzelnes Bändchen mit dem Ziel, einen guten Gesamtsound zu erhalten. Alleine die Aufgabe, das Cajon zu platzieren und den Raum so abzudämpfen, dass es noch irgendwie gut klang, man aber die anderen Signale auch noch einigermaßen hören könnte, war eine Herausforderung mit viel Herumgeschiebe und Testaufnahmen. Am Ende waren das ganze Flair und die Motivation weg, weil es bis zum fertigen Sound viel zu lange gedauert hat. Was nützen mir da die ganzen Vintage-Plug-ins, wenn ich schon das Ausgangssignal nicht in der passenden Zeit hinbekomme?
Zum Glück gibt es heute noch einige Studios, die sich auf solche Vintage-Tricks spezialisiert haben! Erfahrung und Praxis sind da durch nichts zu ersetzen.
Der Unterschied zu Heute?
Wenn wir heute von einem »natürlichen Sound« sprechen, dann reden wir eigentlich davon, dass wir einen völlig unnatürlichen Sound mikrofonieren und den am Ende irgendwie wieder hinbiegen.
Bei der eben genannten Aufnahme war es am Ende statt des einzelnen Bändchens dann doch ein normaler Mikrofonaufbau. Und weil die Mikros nun alle relativ dicht platziert waren, durfte ich mir aus den Einzelsignalen den Klang und die Mischverhältnisse am Ende genau so zaubern, wie ich sie für richtig gehalten habe. Die Positionierung der Musiker wird weniger kritisch, sofern man das Cajon außerhalb der Richtcharakteristik der restlichen Mikros platziert.
Am Ende müssen die Signale im Rechner bearbeitet werden, denn einfach nur zusammengemischt klingen die Aufnahmen genau danach, was sie eigentlich sind: unnatürlich.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass eine Bassdrum drückt, eine Snare sich durchsetzt und wir trotzdem jedes Detail in der Stimme des Sängers perfekt hören. Wenn wir also im Rock- und Pop-Kontext über Natürlichkeit sprechen, müssen wir uns klar sein, dass wir in Wirklichkeit immer über einen bearbeiteten Sound reden.
Wie hilft uns das?
Wenn mir heute jemand erzählt, dass ein Mikro möglichst neutral ist, eine Soundkarte hochauflösend und die Kabel besonders transparent, dann ist mir inzwischen klar, dass alle diese tollen Dinge eigentlich nicht meine Probleme lösen.
Vielmehr orientieren wir uns bei Referenz-CDs bereits an Sounds, die bearbeitet sind. Und dann ist es beinahe egal, ob der Sound mit neuem Equipment messtechnisch noch besser wäre. Viel wichtiger ist, ob wir mit dem Equipment in die Nähe unseres Sound-Ideals kommen!
Das ist auch der Grund dafür, warum es vielleicht messtechnisch ausreichen würde, einen einzigen flexiblen EQ im Plug-in-Ordner zu haben. Aber wenn es eben mit einem bestimmten Plug-in einfacher geht, das Signal in eine bestimmte Richtung zu verbiegen, dann prägt das unseren Sound.
Wahre Natürlichkeit
Oft sind die Gesangsspuren die wichtigsten Tracks im Mix. Egal ob SM58 oder U87, im Rock- und Pop-Kontext braucht es mit beiden Kandidaten häufig noch etwas Nachhilfe.
Eine der gängigen SSL-Simulationen, ergänzt um einen optionalen 1176 als Plug-in, bringt einen schon ziemlich dicht an einen amtlichen Vocal-Sound, der mit vielen Details ganz vorne im Mix steht und dadurch »Natürlichkeit« heuchelt. Obendrauf ein paar dezente Dopplungen, gutes Take-Editing, Stereo-Pitch-Shifting und ein dicker Stereo-Hall − schon funktioniert der Track im Mix. Und klingt ja so authentisch …
Das Witzige ist, dass beispielsweise im Direktvergleich mit den beiden Klassikern SM58 und U87 natürlich ein Unterschied zu hören ist, allerdings beide Mikros mit der ganzen Nachbearbeitung ohne Probleme in einem Mix funktionieren.
Manchmal sind auch Presets ein guter Ausgangspunkt. Die typische Tom-Badewanne gibt’s in Waves SSL-Bundle bereits als solide Werkseinstellung, und es braucht dann für die anderen Mikros bisweilen nicht mehr viel, um einen guten Drum-Sound einzufangen. Ein kurzer Ambience-Effekt dazu mit vorgeschaltetem EQ, mit dem wir gezielt die Frequenzen anheben, die unsere Toms erst so richtig voluminös und durchsetzungsfähig im Mix platzieren. Klappt beinahe immer!
Aber ist das auch nur annähernd authentisch oder natürlich?! Man muss sich eigentlich nur mal den Spaß machen und sich die ganzen Spuren ohne Bearbeitung anhören …
Fazit
Natürlich sollte ein Vorverstärker möglichst nicht rauschen wie ein Wasserfall, Höhen verschlucken und einen völlig verdrehten Frequenzgang aufweisen! Aber eigentlich wäre auch das nicht schlimm, wenn wir da – mit einen Sound erreichen, den wir mögen. Keine falsche Scheu vor dem Editing: Es gibt gar kein heiliges Originalsignal − zumindest nicht, wenn wir über Rock und Pop reden.
Natürlich können wir unsere Signale mit der ganzen Technik auch kaputtschrauben. Deshalb habe ich in vielen Studiotipps dazu geraten, Referenztracks zu nutzen und Plugins im Hörvergleich zu deaktivieren.
Trotzdem ist es nun einmal so, dass wir uns von einem authentischen Abbild häufig völlig entfernt haben und dann eben die Technik brauchen, um am Ende unseren »Larger Than Life«-Sound zu erzeugen. Wenn wir uns das erst einmal eingestanden haben, dann wird es einfacher, Signale passend zu verbiegen und auch mal alter Vintage-Technik eine Chance zu geben.
Lass das Ding doch rauschen, wenn’s gut klingt, warum denn nicht?